Fenster zum Tod
ein Fenster, und im ersten Stock sind es drei Fenster, und das Haus ist grün gestrichen, und auf der rechten Seite ist ein Schornstein, und auf dem Briefkasten sind Blumen draufgemalt. Sie war immer nett zu mir. Ist sie noch so hübsch?«
Ich nickte. »Ja. Und ihr Haar ist immer noch schwarz, aber jetzt trägt sie es kurz.«
»Hat sie auch noch diese Superfigur?« In seiner Frage lag nicht eine Spur von Lüsternheit, ebenso wenig als hätte er gefragt, ob sie noch immer einen Subaru fahre.
»Ich würde sagen ja«, antwortete ich. »Hattet ihr … ist da zwischen euch was gelaufen?«
»Was gelaufen?« Er hatte wirklich keine Ahnung.
»Wart ihr zusammen aus?«
»Nein.«Ich hätte es mir denken können. Thomas hatte nie eine feste Freundin gehabt und war, soweit ich mich erinnern konnte, überhaupt kaum mit Mädchen ausgegangen. Sein seltsames, nach innen gewandtes Wesen war da bestimmt keine Hilfe, allerdings war ich mir auch nie sicher, ob er sich überhaupt für Mädchen interessierte. Während ich früher Sexhefte unter der Matratze versteckte, bunkerte Thomas bereits seine Landkarten.
»Aber ich mochte sie«, fuhr er fort. »Sie hat mich gerettet.«
Ich legte den Kopf schief und versuchte, mich zu erinnern. »Damals, bei dieser Geschichte mit den Landry-Zwillingen?«
Thomas nickte. Er war auf dem Heimweg von der Schule gewesen, als Skyler und Stan Landry, zwei Rowdys mit dem IQ einer Amöbe, sich ihm in den Weg stellten und ihn aufzogen, weil er im Unterricht Selbstgespräche führte. Sie fingen gerade an, ihn herumzuschubsen, da tauchte Julie McGill auf.
»Was hat sie denn gemacht?«
»Sie hat sie angebrüllt, sie sollen mich in Ruhe lassen. Sich zwischen sie und mich gestellt. Feiglinge hat sie sie genannt. Und noch was anderes.«
»Was denn?«
»Wichser.«
Ich nickte. »Daran erinnere ich mich.«
»War schon irgendwie peinlich, sich von einem Mädchen in Schutz nehmen zu lassen«, gab Thomas zu. »Aber die hätten mich nach Strich und Faden verdroschen, wenn sie nicht vorbeigekommen wäre. Gibt’s Nachtisch?«
»Hä? Ah, keine Ahnung. Ich glaub, irgendwo in der Kühltruhe hab ich eine Packung Eis gesehen.«
»Könntest du’s mir hochbringen? Ich war länger hier unten, als ich vorhatte, und ich muss unbedingt zurück«, sagte er, bereits im Stehen.
»Ja, sicher«, antwortete ich.
»Ich hab da was gesehen«, sagte Thomas.
»Was?«
»Ich hab was gesehen. Am Computer. Das darfst du dir bestimmt ansehen. Ich glaube nicht, dass das gegen irgendwelche Sicherheitsbestimmungen verstößt.«
»Was hast du denn gesehen?«
»Du solltest es dir selbst angucken. Erklären würde zu lang dauern.«
»Kannst du mir einen Tipp geben?«
»Du solltest es dir selbst angucken«, wiederholte er. Und dann: »Wenn du mir das Eis hochbringst.«
Fünf
F ünf Minuten später ging ich nach oben. In der Kühltruhe hatte ich noch eine Packung Vanilleeis gefunden und gerade noch genug für eine Portion zusammenkratzen können. Das war mir nur recht, denn ich hatte ohnehin keine Lust darauf.
Ich hätte es besser wissen müssen. Mit Thomas vernünftig darüber zu reden, was er mit seiner Zeit anfangen sollte, war verlorene Liebesmüh. Das hatten bereits meine Eltern einsehen müssen. Wie dumm von mir, zu glauben, mir wäre mehr Erfolg beschieden. Mein Bruder war, wer er war. So war er immer schon gewesen, und es gab keinen Grund, anzunehmen, dass sich das je ändern würde.
Die ersten Zeichen gab es schon früh. Zumindest ein paar davon. Was für eine Faszination Landkarten auf ihn ausübten, offenbarte sich, als er sechs war. Damals fanden meine Eltern das ganz toll. Wenn Besuch kam, spielte sich immer das gleiche Ritual ab: Sie gaben mit Thomas an. Wie die Eltern eines musikalischen Wunderkinds, die es vor Publikum immer wieder nötigten, sich ans Klavier zu setzen und etwas von Brahms zu spielen. »Sucht euch ein Land aus«, forderte mein Vater seine Gäste auf. »Ganz egal, welches.«
Die Freunde meiner Eltern, die meistens keine Ahnung hatten, was Thomas tun würde, nannten also den Namen eines Landes. Argentinien, zum Beispiel. Sofort machte sich Thomas, bereits mit Stift und Block bewaffnet, daran, die Umrisse des Landes zu zeichnen. Malte ein paar Punkte für wichtige Städte hinein und schrieb die Namen dazu. Trug auch noch die Namen der Nachbarländer ein. Dann gab er die Zeichnung zur Begutachtung weiter.
Leider konnte ein Großteil unserer Gäste Argentinien nicht von Arkansas unterscheiden und
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