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Fenster zum Tod

Fenster zum Tod

Titel: Fenster zum Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linwood Barclay
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hatte keinen Schimmer, ob die Karte, die sie nun in Händen hielten, genau war. Also holte Dad einen Atlas aus dem Regal, schlug die Seite mit Argentinien auf und sagte: »Sieh sich das einer an! Das musst du dir wirklich ansehen! Es ist nicht zu fassen. Sogar Mendoza hat er an genau der richtigen Stelle eingezeichnet. Der Junge wird mal Kartograph oder was in der Richtung. Jede Wette.«
    Sollte Thomas es lästig gefunden haben, wie ein Salonzauberer präsentiert zu werden, hatte er sich jedenfalls nie etwas anmerken lassen. Damals war er einfach nur ein begabter kleiner Bruder. Etwas verschlossen, schüchtern, aber nirgendwo ein Anzeichen für eine ernsthafte Störung.
    Das ließ jedoch nicht lange auf sich warten.
    Meine Eltern waren unglaublich stolz auf Thomas. Ich nicht ganz so. Zumindest nicht auf unseren gemeinsamen Urlaubsreisen. Meine Mutter packte für alle die Koffer, mein Vater lud sie in den Kofferraum, und wir machten uns auf den Weg nach Atlantic City, Florida oder Boston. Mom fehlte jeglicher Orientierungssinn, und das Lesen der Straßenkarten, die man an Tankstellen bekam, war für sie jedes Mal eine Quälerei. Dafür war sie ein Genie darin, diese Karten wieder perfekt zu falten.
    Also las Dad die Karten. Wenn sich heutzutage die Leute darüber ereifern, wie gefährlich es sei, während des Autofahrens Textnachrichten zu schreiben, muss ich lachen. Hätte es damals schon Smartphones gegeben, mein Vater hätte den ganzen Moby Dick eintippen und dabei den Buffalo-Pass meistern können. Er ließ Mom die Karte zu einer handlichen Größe falten, legte sie sich auf dem Lenkrad zurecht und konsultierte sie alle paar Sekunden. So grasten wir ganz Amerika ab.
    Bis Thomas sieben wurde.
    »Ich lese die Karte«, bot er sich an.
    Zuerst nahm mein Vater keine Notiz von ihm, aber Thomas ließ nicht locker. Schließlich dachte Dad sich wahrscheinlich, was kann’s denn schaden? Gib dem Jungen doch das Gefühl, dass er eine Hilfe ist. Doch für Thomas war das kein Spiel. Er tat nicht so, als würde er Dad den Weg weisen, so wie manche Kinder schon lange, bevor sie lesen können, beim Blättern in einem Buch vor sich hinplappern.
    Thomas musste nur ein paar Sekunden auf eine Karte sehen, schon gab er Anweisungen wie zum Beispiel: »Jetzt noch fünfzehn Kilometer auf der 90, dann fährst du ab und nimmst die 22 Richtung Osten.«
    »Zeig mal«, sagte Dad, nahm Thomas die Karte wieder ab und studierte sie auf dem Lenkrad.
    »Verdammt will ich sein«, sagte er. »Der Junge hat recht.«
    Thomas hatte immer recht, wenn es ums Kartenlesen ging.
    Ich versuchte, sie ihm zu entreißen. Schließlich stand mir als dem Älteren das Recht zu, den Platz des Navigators einzunehmen. Ich konnte nicht mitansehen, wie mein Vater meinen kleinen Bruder zu Rate zog.
    »Raymond!«, brüllte mein Vater mich in solchen Momenten an. »Lass deinen Bruder in Frieden seine Arbeit tun! Er weiß, was er tut.«
    Wenn ich dann hilfesuchend meine Mutter ansah, meinte sie: »Es gibt auch Dinge, die du gut kannst. Aber das hier ist etwas, bei dem Thomas wirklich gut ist.«
    »Was kann ich denn gut?«, fragte ich.
    Sie musste überlegen. »Du kannst ausgesprochen gut zeichnen. Vielleicht könntest du ja die Sehenswürdigkeiten zeichnen, die wir auf unserer Reise besichtigen. Das wär doch was.«
    Wie großzügig! Wozu hatten wir denn einen Fotoapparat? Wer hatte denn etwas davon, wenn ich die Touristenattraktionen, die wir besuchten, künstlerisch wiedergab? Was sollte das denn für eine Hilfe sein? Beleidigt griff ich in die Mappe, in der ich Papier, Stifte und eine Kinderschere mitnahm, um mich auf unseren Reisen zu beschäftigen, und drückte meiner Mutter ein unberührtes Blatt schwarzes Bastelpapier in die Hand.
    »Da. Das ist die Carlsbad-Höhle«, sagte ich zu ihr. Die hatten wir am Vortag besichtigt. »Das kannst du einrahmen, wenn wir zu Hause sind.«
    Einen Vorgeschmack auf das, was wir mit Thomas noch erleben sollten, bekamen wir auf der Rückfahrt von einem Sommerurlaub im Süden von Pennsylvania, ungefähr eineinhalb Stunden südöstlich von Pittsburgh. Ich war damals elf, Thomas neun. Wir hatten in einem stattlichen alten Berghotel gewohnt. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, habe ich das Bild des Overlook Hotel aus dem Film Shining im Kopf, mit dem Unterschied, dass in unserem Hotel kein Blut aus den Aufzügen strömte, keine Tote in der Badewanne lag und kein kleiner Junge auf einem Tretauto über die Flure strampelte. Es gab eine

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