Fenster zum Tod
unglaublich begabt. Seine Fähigkeit, sich an alles zu erinnern, was er einmal auf Whirl360 gesehen hat, überstieg mein Fassungsvermögen. Auf meine Frage, ob er ohne diese sogenannte Begabung glücklicher wäre, kam sofort die Retourkutsche: Wäre ich glücklicher ohne meine künstlerische Begabung? Was ich für seinen Fluch hielt, darin sah er sein Talent. Das unterschied ihn von anderen. Das erfüllte ihn mit Stolz. Seine Manie war die Quelle seiner Freude. Und wenn man es recht bedachte, galt das nicht für alle begabten Menschen?
Ich wusste es nicht.
Was ich wusste, war, dass meine Eltern alles taten, um Thomas zu helfen, und dass sie ihn bedingungslos liebten. Sie brachten ihn zu den verschiedensten Ärzten und Spezialisten. Sie sprachen mit all seinen Lehrern. Sie waren in ständiger Sorge um ihn. Ich als der ältere Bruder wurde oft mit einbezogen. Einmal – ich glaube, damals war ich fünfzehn – war Thomas stundenlang unauffindbar. Er fuhr oft mit dem Fahrrad kreuz und quer durch Promise Falls, kartographierte alles minutiös. Wenn er heimkam, war sein Notizbuch voller Straßenpläne, sogar Stoppschilder und Hydranten waren detailgetreu eingezeichnet.
An dem bewussten Tag war Thomas zum Abendessen nicht nach Hause gekommen. Das sah ihm gar nicht ähnlich.
»Geh und schau, ob du ihn findest«, sagte Mom.
Ich schwang mich auf mein eigenes Rad und fuhr in die Innenstadt. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dort würde ich ihn finden. Das komplizierte Gewirr der Straßen und Gassen im Zentrum war für jemanden mit Thomas’ Interessen von größtem Unterhaltungswert. Ich fand ihn nicht.
Aber ich fand sein Fahrrad.
Es stand halb versteckt in einer Seitengasse der Saratoga Street, zwischen einem Herrenfriseur und der Promise Falls Bakery, die die besten Zitronentörtchen des Universums machte. Ich dachte, Thomas sei vielleicht hineingegangen, um sich eines zu kaufen, doch die Verkäuferin hatte ihn nicht gesehen.
Ich lief die ganze Straße ab, fragte in jedem Büro, in jedem Laden nach, ob jemand meinen Bruder gesehen hatte. Vor einem Schuhgeschäft überwand ich schließlich meine Angst aufzufallen und rief ganz laut: »Thomas!«
Als ich zu der Stelle zurückkam, an der ich sein Fahrrad gefunden hatte, war es verschwunden.
Wütend radelte ich nach Hause, wo ich zehn Minuten nach ihm ankam. An diesem Abend war Thomas besonders schlecht drauf. Während des Essens sagte er kein einziges Wort. Aber später hörte ich ihn im Keller mit unserem Vater streiten, oder, genauer gesagt, ich hörte meinen Vater mit ihm schimpfen. Ich nahm an, er bekam einen Rüffel, weil er so spät nach Hause gekommen war. Doch als ich ihn später danach fragte, sagte er, da sei nichts gewesen.
Was er an diesem Tag getrieben hatte, kam nie wieder zur Sprache.
Ich saß am Küchentisch, dachte über alles Mögliche nach und sah Thomas zu, wie er seine Frühstücksflocken aß. »Weißt du was«, sagte ich. »Statt Abendessen machen habe ich eine andere Aufgabe für dich.«
Er sah von seiner Schale auf. »Was denn?« Er klang beunruhigt.
»Das Haus. Hier muss sauber gemacht werden.«
Er ließ seinen Blick durch die Küche und das Wohnzimmer schweifen, so weit er es von hier aus sehen konnte. »Sieht doch alles ganz ordentlich aus.«
»Staubsaugen ist auch fällig. Hier wird jede Menge Dreck hereingetragen. Ich putze die Bäder, du saugst Staub.«
»Dad hat immer sauber gemacht«, sagte er. Ich sagte nichts. »Er hat’s halt immer gemacht«, fuhr Thomas fort. »Ich hab den Staubsauger noch nie benutzt.«
»Stimmst du mir zu, dass das Haus geputzt werden muss?«, fragte ich ihn.
Er zögert mit der Antwort. »Schon«, sagte er schließlich.
»Und wenn Dad nicht mehr da ist, was meinst du, wie wir dieses Problem lösen sollen? Jetzt wohnen wir beide hier, im Moment zumindest, und ich möchte, dass du dich an der Problemlösung beteiligst.«
Er überlegte. »Aber jetzt könntest du das doch machen.«
»Ich erledige schon die Einkäufe. Und bis jetzt habe immer ich mich ums Essen gekümmert. Und war beim Anwalt. Und, Thomas, ich hab auch noch einen Beruf. Ich muss entweder auf einen Sprung nach Burlington –«
Er war drauf und dran, es zu sagen, doch ich hob warnend den Zeigefinger, und er ließ es sein.
»Ich muss entweder auf einen Sprung nach Burlington, oder ich muss von hier arbeiten. Auf jeden Fall hab ich zu tun.«
»Ich auch« sagte er.
»Das stimmt. Ich dachte, wenn ich meine Arbeitszeit drangeben muss, um
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