Fenster zum Tod
neben ihn und sagt: »Deine Leute lassen dir ausrichten, sie wissen, dass du sie verkauft hast. Sie wissen von deinem Verrat. Sie wissen, dass du sie beschissen hast.«
Und dann, um auf Nummer sicher zu gehen, rammt sie ihm den Eispick ein viertes Mal in den Körper. Diesmal ins Herz.
Sie steht auf und hebt ihr Gesicht dem Regen entgegen. Gut fühlt sich das an. Reinigend.
Sie rollt Michael Lambton in den Straßengraben und legt den Reservereifen zurück in die Vertiefung unter der Kofferraumabdeckung. Sie sitzt bereits wieder hinter dem Steuer und fährt auf dem schwarzen Asphalt dahin, als ihr eigenes Handy klingelt.
»Ja.«
»Ich bin’s.« Kein Hallo, kein Name. Aber sie erkennt die Stimme des Mannes. Es ist Lewis.
»Hey«, sagt sie.
»Ich rufe an, weil ich wissen will, ob du einen Auftrag übernehmen kannst. Ich meine, du arbeitest ja nicht mehr ausschließlich für Victor.«
»Bin ziemlich ausgebucht im Moment«, sagt sie.
»Ich hätte da vielleicht was für dich.«
»Ich bin schon über der Grenze. Brauch eine Pause.«
»Aber falls ich was für dich hätte, könntest du das übernehmen? Es würde sich lohnen.«
»Was meinst du mit ›falls‹?«
»Ich muss erst mit meinem Boss darüber reden. Schätze, er wird einverstanden sein. Ich werde es sehr bald wissen.«
Sie überlegt. Sie braucht wirklich eine Auszeit. Aber sie lehnt auch nur ungern einen Auftrag ab.
»Was für ein Auftrag?«
»Eine Kellnerin in einer Bar«, sagt er. »Ein Kinderspiel.«
»Klingt nicht so, als muss unbedingt ich das machen.«
»Wir brauchen jemand von außerhalb.«
»Sag mir Bescheid, wenn du mit deinem Boss geredet hast.«
Sie legt auf.
Es ist seine Stimme. Irgendetwas daran erinnert sie an ihren Vater, auch wenn sie schon jahrelang nicht mehr mit ihm gesprochen hat. Dieser elende Mistkerl.
Aber aus ihrem Kopf lässt er sich nicht vertreiben, der gute alte Dad.
Noch heute hört sie, wie er sagt: »Himmelherrgott, Silber? Wir haben den ganzen weiten Weg nach Australien zurückgelegt, damit du Silber gewinnst? Weißt du, was die Leute sagen? Wenn du bei den Olympischen Spielen Bronze gewinnst, dann freust du dich, dass du überhaupt eine Medaille nach Hause bringst. Aber wenn du eine silberne gewinnst, wenn du die goldene nur um Haaresbreite verpasst, dann nagt das dein Leben lang an dir. Das ist, als wärst du der zweite Mensch, der den Mond betreten hat. Wer kennt den heute noch?«
Sie erinnert sich noch genau an die Ohrfeige, die sie sich mit ihrer Antwort einhandelte: »Buzz Aldrin.«
Einundzwanzig
A m nächsten Morgen war alles, als wenn nichts geschehen wäre.
Thomas kam zum Frühstück herunter wie an jedem anderen Tag. Ich hatte noch immer ein schlechtes Gewissen wegen dem, was ich nach dem Besuch der FBI-Agenten getan hatte, aber Thomas tat, was er auch sonst tat: Er blieb in seinem Zimmer und bereiste die Welt.
So vieles an ihm war mir ein Rätsel. Wie gern hätte ich gewusst, was in seinem Kopf vorging. Schon als wir noch Kinder waren, war er für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Er lebte in einer Blase, die es mir unmöglich machte, zu ihm durchzudringen, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Ich hatte mich immer gefragt, warum er und nicht ich? Warum war er derjenige, der von dieser psychischen Störung – wie hieß das noch? – affiziert war, und nicht ich? War das gerecht? Hat Gott auf meine Eltern heruntergeschaut und gedacht: »Ich geb ihnen einen mit einem gesunden Kopf auf den Schultern, und mit dem anderen – mit dem amüsier ich mich ein bisschen.«
An Theorien darüber, warum Thomas schizophren war, gab es keinen Mangel. Als wir Kinder waren, musste elterliche – oder genauer gesagt: mütterliche – Vernachlässigung als Erklärung herhalten, was bei unserer Mutter auf äußerst geringe Resonanz stieß. Sie war nämlich eine geduldige, liebevolle Frau, die mit ihrer Fürsorge und Zuwendung die Auswirkungen einer seelischen Störung eher gemildert als verschlimmert hätte. Im Lauf der Zeit folgte eine Theorie der nächsten. Es war genetisch. Umweltbedingt. Ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn. Stress. Ein Kindheitstrauma. Konservierte Lebensmittel. Eine Kombination aller Faktoren.
Oder vielleicht etwas völlig anderes.
Der langen Rede kurzer Sinn: Niemand hatte auch nur die leiseste Ahnung. Ich konnte ebenso wenig erklären, warum Thomas war, wie er war, wie ich erklären konnte, warum ich war, wie ich war. Thomas war zwar in manchem ein wenig eingeschränkt, gleichzeitig aber
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