Fenster zum Tod
Monat lang arbeitete mein Vater in jeder freien Minute an dieser Küche.
Er war also durchaus ein hilfsbereiter Mensch, aber einer, der zupackte. Seine Zeit und seine Energie stellte er gern zur Verfügung, aber er war nicht der Typ, der irgendwo anrief und irgendwelchen Hilfsorganisationen seine Kreditkartennummer auf die Nase band.
Spendenbereitschaft als Motiv für seine Recherchen schied also aus.
Vielleicht hatte er ja gehört, dass Kinderprostitution sich im Staat New York zum Problem entwickelt hatte und wollte sich vergewissern, dass es nicht auch in Promise Falls so weit kam. Dieses Motiv schien mir noch weiter hergeholt.
Was gab es sonst noch?
Das Motiv, mit dem ich mich am wenigsten auseinandersetzen wollte, war, dass Dad selbst sich für das Thema interessierte.
Wenn ich vom Anwalt zurückkehrte, wollte ich in der Chronik der besuchten Websites nachsehen, wohin Dads Recherchen ihn geführt hatten. Vielleicht kam ich seinen Beweggründen mit ihrer Hilfe auf die Spur.
Im Laufe meines Lebens hatte ich immer wieder Geschichten gehört von Leuten, die nach dem Tod ihrer Eltern alle möglichen Geheimnisse entdeckt hatten. Der eine hatte eine Mutter, die ihr Kind zur Adoption freigegeben hatte, bevor sie heiratete. Die andere einen Vater, der ein Verhältnis mit seiner Sekretärin gehabt hatte. Die dritte eine Mutter, die jahrelang ihre Tablettensucht verheimlichen konnte. Der vierte einen Vater, der ein Doppelleben geführt und in einem anderen Teil des Landes eine Zweitfamilie hatte, von der niemand etwas geahnt hatte.
Auf so etwas nach dem Tod der Eltern zu stoßen war für die Kinder zweifellos ein Schock, aber nichts im Vergleich zu der Entdeckung, dass der eigene Vater ein Perverser war.
Wofür ich keinerlei Anhaltspunkte hatte. Und was ich auch nicht glauben konnte.
Eine Möglichkeit gab es noch.
Es war nicht Dad, der sich über Kinderprostitution informiert hatte.
Jemand anderer hatte seinen Laptop benutzt.
»Alles in Ordnung mit dir, Ray?«, fragte Harry Peyton, als ich meinen Stuhl näher an seinen Schreibtisch heranrückte, um ein paar Dokumente zu unterschreiben.
»Alles bestens«, sagte ich.
»Du siehst erschöpft aus.«
Ich kritzelte meine Unterschrift dahin, wohin sein Finger zeigte.
»Du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Den Papierkram haben wir bald erledigt. Da läuft alles reibungslos.«
»Schön zu hören.«
»Und bei euch zu Hause? Wie geht’s Thomas?«
Ich legte den Stift auf den Tisch und lehnte mich zurück. »Wie geht’s Thomas?«, wiederholte ich, ohne Harry anzusehen. »Gute Frage.«
»Was hast du auf dem Herzen, Ray?«
»Harry«, sagte ich, »in gewisser Weise sind Sie doch auch mein Anwalt, oder?«
»Aber natürlich.«
»Ich meine, ich weiß, Sie waren Dads Anwalt, und Sie kümmern sich um den Nachlass und das ganze Zeug, aber sind Sie auch in anderen Dingen mein Anwalt?«
»Ja«, sagte er. »Ich bin dein Anwalt. Mit mir kannst du reden.«
Das wollte ich auch, aber ich wusste nicht, womit ich anfangen sollte. Sicher nicht mit Dad und dem, was ich auf seinem Computer gefunden hatte. Aber schließlich war diese Entdeckung nicht das Einzige, was mich in den letzten vierundzwanzig Stunden aus dem Gleichgewicht gebracht hatte.
»Das FBI war bei uns«, sagte ich.
»Was? Mensch, Ray, du hättest mich anrufen sollen. Hatten sie einen Durchsuchungsbeschluss?«
»Sie haben mir nur ihre Ausweise gezeigt.«
»Du meine Güte.«
Ich erzählte ihm alles. Wie sie einfach ins Haus gekommen waren und Thomas und mir Fragen gestellt hatten. Wie ich von den unzähligen an Bill Clinton adressierten E-Mails erfahren hatte, die Thomas an die CIA geschickt hatte. Über das imaginäre Gespräch zwischen meinem Bruder und dem früheren Präsidenten, das ich belauscht hatte.
Harry legte die Hände flach auf den Tisch. »Unfassbar. Du hast ganz schön was am Hals, Ray.«
»Aber das ist noch nicht alles«, sagte ich.
»Raus mit der Sprache.«
»Es geht um Dad.«
»Ja?«
»Hat er je … wissen Sie eigentlich irgendwas über sein Privatleben?«
»Was meinst du mit Privatleben? Etwa sein Liebesleben?«
»Mhm.«
Harry zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Du meinst nach dem Tod deiner Mutter?«
Eigentlich nicht. »Ja«, sagte ich.
»Da bin ich echt überfragt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er jemanden mit nach Hause gebracht hat, und er war auch nie länger weg. Wegen deines Bruders. Über Nacht war er bestimmt nie weg. Aber wenn er jemanden kennengelernt hätte,
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