Fenster zum Tod
offen sein, denn der Straßenlärm ist deutlich zu hören. Das ist gut. Sie bewegt sich zwar lautlos, doch ein gewisser Geräuschpegel im Hintergrund kann nicht schaden.
Nicole achtet auf Hinweise auf die Anwesenheit einer weiteren Person. Ein Schnarchen, leises Atmen. Eine laufende Dusche.
Ein klopfendes Herz.
Sie hört nichts, spürt jedoch, dass jemand da ist. Sie geht ein paar Schritte Richtung Wohnzimmer, so weit, bis sie auch die Schlafzimmertür sehen kann.
Vorsichtig drückt sie sich an einem Küchentisch mit zwei Stühlen vorbei, unverkennbar IKEA. Eine Monatsübersicht, auf der mit Bleistift Allison Fitchs Schichten in der Bar eingezeichnet sind, ist mit einem Magneten in Form einer Katze auf dem Kühlschrank befestigt.
O Gott, bloß keine Katze, denkt Nicole. Es fühlt sich nicht nach Katze an. Es riecht nicht nach Katze. Auf dem Boden steht keine Schüssel. Aber die Küche ist ziemlich unaufgeräumt. In der Spüle stapelt sich das Geschirr. Auf dem Tisch steht eine halbvolle Kaffeetasse.
Jetzt sieht Nicole die Schlafzimmertür und das Zimmer dahinter. Es ist das typische kleine Schlafzimmer einer kleinen New Yorker Wohnung. Keine zehn Quadratmeter. Gerade groß genug für das ungemachte Doppelbett. An der Wand gegenüber der Tür ein Fenster. Geöffnet.
Da ist sie.
Nicht im Bett, sondern am Fenster, mit dem Rücken zu Nicole. Schulterlanges dunkles Haar. Ihre Hände ruhen auf dem Gehäuse der Klimaanlage. Sie sieht auf die Straße hinunter. Sie ist angezogen. Dunkelblauer Rock, weiße Bluse. Wie sie da steht, trägt sie wahrscheinlich Schuhe mit hohen Absätzen, doch vom Knie abwärts sieht Nicole nichts mehr, das Bett steht im Weg.
Die Frau ist keine vier Meter von ihr entfernt.
Sie rechnet nach. Keine Zeit, ums Bett herumzulaufen. Sie muss drüber. Losrennen, abspringen, mit dem linken Fuß aufs Bett, mit dem rechten erreicht sie schon den Boden dahinter. Eine halbe Sekunde, dann hat sie sich auf sie gestürzt. Sie hat ihre Laufschuhe an.
Und da, gleich neben dem Fußende des Bettes, sieht sie eine Handtasche. Höchstwahrscheinlich wird sie da das Handy finden. Nicole greift in die Jackentasche und zieht geräuschlos die weiße Plastiktüte heraus. Schüttelt sie leicht, um sie zu öffnen.
Eine Sekunde später springt sie auf das Bett, benutzt es als Sprungbrett, um auf die andere Seite zu kommen. In dem Moment, als ihr Opfer bemerkt, dass es nicht allein ist, ist es schon zu spät. Nicole hat ihm die Tüte schon über den Kopf gezogen.
Ein erstickter Schrei und, genau wie Nicole es vorhergesehen hat, der Griff nach der Tüte, der verzweifelte Versuch, sie sich vom Gesicht zu reißen. Doch Nicole hat sie sich mehrfach ums Handgelenk geschlungen und zieht die Tüte so fest zusammen, dass sie anliegt wie eine zweite Haut.
Ein letztes Japsen, und die Frau bricht über der Klimaanlage zusammen. In diesem Augenblick fährt der Wagen mit der seltsamen Dachkonstruktion unten auf der Straße vorüber. Die Frau rutscht von der Klimaanlage auf den Boden.
Nicole kniet sich hin und hält die Tüte eine gute Minute lang auf ihr Gesicht gepresst, nur um ganz sicherzugehen. Dann streift sie der Toten die Tüte vom Kopf, knüllt sie zu einer Kugel zusammen und steckt sie zurück in die Jackentasche.
Jetzt das Handy.
Sie nimmt die Tasche vom Bett, öffnet den Reißverschluss, findet das Handy auf Anhieb in einer Seitentasche. Sie steckt es zu der Tüte in ihrer Jackentasche.
Dann holt sie ihr eigenes Handy heraus, entsperrt es, drückt zweimal.
»Erledigt. Räumtrupp bereit?« Dieser Auftraggeber will nicht, dass eine Leiche zurückbleibt. Nicole ist eine Spezialistin auf ihrem Gebiet, aber Entsorgung ist nicht ihr Metier.
»Ja.« Lewis.
Sie beendet den Anruf ohne ein weiteres Wort. Eine goldwerte Darbietung. Keine Abstürze. Keine verschenkten Punkte wegen mangelhafter Ausführung oder Leerschwüngen. Kein verwackelter Abgang.
Bei aller Bescheidenheit: nicht ein Grund für einen Punkteabzug.
Leider auch kein frenetischer Beifall, aber man kann nicht alles haben.
Sie steht auf, wirft einen letzten Blick auf die tote Frau und macht sich bereit zum Abgang, da hört sie, wie die Wohnungstür aufgeht.
Für den Räumtrupp ist es noch zu früh.
Fünfundzwanzig
I ch klopfte bei Thomas, um ihm zu sagen, dass das Abendessen bald fertig sei.
»Was gibt’s?«, fragte er.
»Burger vom Grill.«
Als das Essen vorbei und das schmutzige Geschirr in der Spülmaschine verstaut war, legte ich Thomas die Hand
Weitere Kostenlose Bücher