Fenster zum Tod
hätte er sich natürlich auch tagsüber mit ihr treffen können. Da traute er sich schon mal, deinen Bruder ein paar Stunden allein zu lassen.«
»Haben Sie ihn je mit einer Frau gesehen? Hat er mal erzählt, dass er jemanden kennengelernt hat?«
Harry schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ein Mann in seinem Alter, da gibt es keinen Grund, anzunehmen, dass er nicht mehr, na ja, sexuell aktiv war. Darf ich fragen, warum das für dich ein Thema ist, Ray? Denkst du vielleicht, dass bei euch plötzlich eine Frau hereinschneit und Ansprüche auf euer Erbe anmeldet?«
»Nein. Nein, schon gut«, sagte ich. »Wissen Sie was? Vergessen Sie, dass ich überhaupt gefragte hab. Es ist nichts.«
Vielleicht hätte auch ich das tun sollen. Es einfach vergessen. So tun, als hätte ich dieses Wort nie auf dem Computer meines Vaters gesehen.
Aber zuerst wollte ich mir noch anschauen, auf welche Webseiten ihn seine Suche geführt hatte. Eigentlich wollte ich es gar nicht wissen. Aber ich musste es wissen.
Als ich heimkam, war Thomas da, wo ich ihn vermutet hatte. Dads Laptop stand zugeklappt auf dem Küchentisch. Thomas musste es von der Veranda hereingebracht und ausgeschaltet haben.
Ich klappte den Deckel hoch, drückte auf die Taste und wartete die halbe Minute, die der Computer zum Hochfahren brauchte. Dann öffnete ich den Browser.
Ich tippte einen Buchstaben ins Suchfeld, um mir die letzten Suchbegriffe anzeigen zu lassen.
Da war nichts.
Nichts über Smartphones, Depression oder Kinderprostitution.
»Das gibt’s doch nicht«, sagte ich leise.
Ich bewegte den Cursor nach oben und klickte »Chronik« an. Die Liste sämtlicher Websites, die von diesem Computer aus aufgerufen worden waren, war gelöscht.
Vierundzwanzig
S elbst jetzt, nach all diesen Jahren, gibt es noch viele Nächte, in denen sie sich im Traum wieder auf dem Barren sieht.
Es ist das Jahr 2000. Die Olympischen Spiele in Sydney. Nicole ist fünfzehn. Sie absolviert gerade die Pflichtübungen auf dem Stufenbarren. Vor Tausenden von Zuschauern, Hunderten von Kameras, ihren Kameradinnen von der Kunstturnerriege, ihrem Trainer. Sie spürt die Magnesia auf ihren Händen, dann hechtet sie auf den unteren Holm, umklammert ihn, spürt den Zug in ihren Armen, wirbelt zweimal herum, bis sie genügend Schwung hat, um sich auf den oberen Holm zu katapultieren, dann stößt sie sich ab, rotiert, das Stadion, die Menschen fliegen in ihrem Gesichtsfeld vorbei, doch sie sieht sie nicht. In diesem Moment gibt es sonst niemanden. Keine Zuschauer, keine Kameras, keine Teamkameradinnen, keinen Trainer. Es gibt nur Nicole und diese beiden Holme. Nichts und niemanden sonst gibt es in der kommenden Minute im ganzen Universum. In dieser Minute, die so viel länger dauert als sechzig Sekunden. In ihren Träumen kann diese Minute Stunden dauern. Sie schwingt sich in die Luft. Fliegt wie ein Vogel. Gewichtslos. Dieser Zustand ist unvergleichlich, unbeschreiblich. So unmöglich wie es für jemanden sein muss, der auf dem Mond spazieren gegangen ist, dieses Gefühl zu beschreiben, denkt sie. Sie geht nicht auf dem Mond spazieren, aber diese Euphorie, die sie spürt, wenn sie auf dem Barren ist, kann die wirklich so anders sein? Olga kennt sie. Nadia kennt sie. Es gibt keine Worte dafür. Es gibt den Barren, und dann kommt alles andere.
In den Nächten, in denen sie nicht vom Barren träumt, träumt sie von den Morden.
Auf ihre Art sind auch sie voller Anmut. Auf das Opfer herabstoßen, geräuschlos und geschmeidig wie vom oberen Holm auf den unteren. Minimaler Kraftaufwand. Sparsame Bewegungen. Auf ihre Art auch dies von makelloser Schönheit.
Von tödlicher Präzision.
Ob sie nun vom Stufenbarren träumt oder von Morden, ihre Darbietungen sind immer Gold wert. Niemals Silber. Niemals Bronze. Manchmal fließen ihre Träume ineinander. Wenn sie vom oberen Holm gleitet, sich zum letzten Mal abstößt, sich auf den Abgang vorbereitet, wenn sie die Hände wieder frei hat, dann sieht sie den Dolch in ihnen. Wenn ihr Körper, auch er ein Instrument, herabstößt, dann der Dolch mit ihm.
Wehe dem, der unten wartet.
Sie ist in der Orchard Street.
Nicole hat die Adresse. Sie hat ihre Instruktionen. Sie hat ein Foto. Groß, langes dunkles Haar. Die Zielperson wird da sein. Allison Fitch. Sie teilt sich die Wohnung mit einer Freundin, doch die Freundin arbeitet tagsüber. Allison arbeitet nachts. In einer Bar. Bei Tag schläft sie.
Nicole weiß nicht, wer diese Allison Fitch ist oder
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