Fenster zum Tod
»Nächstes Mal spielst du Archie Goodwin, gehst aus dem Haus, steigst in den Zug, fährst nach New York, marschierst rum und sammelst Beweise. Und ich bin Nero Wolfe, bleibe zu Hause und kümmere mich inzwischen um meine Orchideen.«
»Archie? Orchideen?«
»Thomas, ich habe getan, was ich konnte. Ehrlich. Online ist nichts darüber zu finden, dass in dieser Wohnung jemand ermordet wurde. Nichts in den Nachrichten. Was du auch gesehen hast, es ist eindeutig nichts von Bedeutung. Am besten, du lässt es jetzt gut sein.« Ich zog den Ausdruck aus der Tasche, zerknüllte ihn und warf ihn in den Papierkorb. Thomas verfolgte den Flug der Papierkugel mit seinem Blick, dann sah er wieder mich an.
»Das hättest du dir jetzt sparen können«, bemerkte Julie.
Ich sah sie an und seufzte. Vielleicht hatte sie ja recht, aber der Tag war lang gewesen, und ich war fix und fertig.
Ich rechnete damit, dass Thomas Julie zustimmen würde, doch was er tatsächlich sagte, erwischte mich eiskalt.
»Ich kann Mr. Prentice nicht leiden.«
Ich blinzelte. »Was?« Es dauerte ein paar Sekunden, bis mein Hirn umgeschaltet hatte. »Und warum kannst du Mr. Prentice nicht leiden?«
»Er will, dass ich Sachen mache, die ich nicht machen will.«
»Thomas, wovon ist jetzt wieder die Rede?«
»Er wollte mittags mit mir essen gehen, und ich wollte nicht.«
»Heute? Er war heute da?«
Mein Bruder nickte. »Er hat mich gepackt, damit ich mitkomme, da habe ich ihm eine runtergehauen.«
Ich trat auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Mensch, Thomas, du hast Len Prentice eine runtergehauen?«
Thomas nickte. »Nicht fest.« Er stand auf, um mir zu zeigen wie fest. Er nahm meine Hand und legt sie sich auf den Arm. »So hat er mich gepackt. Ich habe den Arm weggezogen und ihn dabei ins Gesicht geschlagen.« Er wiederholte es in Zeitlupe und berührte meine Wange mit dem Handrücken.
»Du hast Len Prentice ins Gesicht geschlagen.«
»Ich kann ihn nicht leiden. Konnte ich noch nie.«
»Thomas, du kannst doch nicht einfach hergehen und Leuten eine scheuern.«
»Ich hab dir doch gesagt, er hat mich zuerst am Arm gepackt. Ich hab nicht fest zugeschlagen. Er hat nicht geblutet oder geweint oder so.«
»Sondern? Was hat er gemacht?«
»Er ist gegangen.«
Ich seufzte. Ich würde Thomas nicht mehr allein lassen können. Jedenfalls nicht einen ganzen Tag lang. Bevor ich dieses Haus verkaufen und nach Burlington zurückkehren konnte, musste ich Thomas irgendwo unterbringen, wo man ihn im Auge behalten konnte. Was mich noch zusätzlich beunruhigte, war, dass Thomas innerhalb kürzester Zeit zweimal handgreiflich geworden war. Erst war er auf mich losgegangen, und jetzt hatte er Len Prentice geschlagen. Zu seiner Verteidigung musste ich allerdings sagen, dass er beide Male provoziert worden war.
»Thomas«, sagte ich. »Was ist denn los mit dir? Du rastest doch sonst nicht so einfach aus. Das sieht dir doch gar nicht ähnlich.«
»Ich weiß«, sagte er und setzte sich wieder hin. Den Blick erneut auf die Bildschirme gerichtet sagte er: »Normalerweise bin ich nicht so.«
Dann sagte er nichts mehr und klickte nur noch mit der Maus herum.
Ich spürte Julies Hand auf dem Rücken. »Komm«, sagte sie leise. »Ich glaube, wir könnten jetzt beide was zu trinken gebrauchen.«
Dreiunddreißig
W er ist dieser Len Prentice?«, fragte Julie, als ich ihr ein Bier aus dem Kühlschrank reichte.
Ich sagte es ihr. Als ich hinzufügte, dass sie sich vielleicht von der Beerdigung an ihn erinnerte und ihn ihr beschrieb, wusste sie gleich, wen ich meinte. »Thomas mochte ihn noch nie.«
»Wie kommt er dazu, deinen Bruder praktisch zum Mittagessen zu schleifen?«
»Keine Ahnung. Len kapiert einfach nicht, dass manche Leute anders sind. Wenn Thomas Stimmen hört, dann soll er sich doch die Ohren zustopfen. Wenn seine Frau nicht fit genug ist, mit ihm zu reisen, dann soll sie doch ein bisschen mehr Energie aufbringen. Du weißt schon. ›Hab dich nicht so.‹«
»Ja, solche Typen kenn ich.«
»Vielleicht sollte ich Len anrufen. Hören, wie er drauf ist. Jetzt ist es schon zu spät. Vielleicht morgen Vormittag. Also echt.«
Ein paar Sekunden standen wir einfach nur da, lehnten uns an die Küchenplatte und tranken schweigend unser Bier.
Schließlich sagte ich: »Danke, dass du dich um ihn gekümmert hast. Ihn zum Essen ausgeführt, ihm dein iPad geliehen hast.«
»Siehst du, genau das meint er damit«, sagte Julie.
»Wie bitte?«
»Du
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