Fenster zum Tod
fuhr er ihn ganz herunter.
Ich trat wieder auf den Flur und machte ein paar Schritte Richtung Bad. Die Tür stand offen. Ich machte Licht.
Auch hier keine Spur von ihm.
»Thomas!«, rief ich. Diesmal gab ich mir keine Mühe mehr, leise zu sein. »Thomas! Ich bin wieder da.«
Ein banges Gefühl beschlich mich. Ich hätte nie nach Manhattan fahren und ihn einen ganzen Tag lang allein lassen dürfen. Er hatte sich wieder in Schwierigkeiten gebracht. Aber was für Schwierigkeiten? Ich hoffte nur, dass die Leute vom FBI sich nicht noch mal herbemüht und ihn diesmal mitgenommen hatten.
Ich ging wieder nach unten. In der Küche gab es eine Tür, die in den Keller führte. »Thomas?«
Keine Antwort, trotzdem ging ich die Treppe hinunter. Mit dem Licht aus der Küche kam ich bis nach ganz unten, dort zog ich die Kette, die die nackte Glühbirne zum Leuchten brachte. Der Raum diente hauptsächlich zur Aufbewahrung. Unzählige Kisten mit Dingen, die meine Eltern im Lauf der Jahre zusammengetragen hatten, standen herum. Die zu sichten war ein schönes Stück Arbeit, das mir auch noch bevorstand. Ich ging herum, spähte hinter den Heizofen. Keine Spur von Thomas.
Ich ging durch die Küchentür hinaus in den Garten. Die Luft war kühl, sanftes Mondlicht lag über der Landschaft. Nicht eine Wolke war am Himmel zu sehen, und hätte ich mich je mit Astronomie beschäftigt, hätte ich vielleicht außer dem Großen Wagen noch andere Sternbilder erkennen können.
»Thomas!«, rief ich noch einmal laut, dann sagte ich leise: »Verdammt.«
Ich überlegte, ob ich die Polizei rufen sollte, entschied mich aber, zunächst selbst noch einmal alles abzusuchen. Ich rannte zur Scheune hinüber und schob das hohe, breite Tor auf. Gleich neben dem Tor, an einen vertikalen Balken geschraubt, befand sich der große elektrische Schaltkasten. Ich machte das Licht an.
Es gab nicht viel zu sehen. Nur den Rasentraktor, mit dem unser Vater verunglückt war.
»Thomas! Verdammt, wenn du dich versteckst –«
Ich unterbrach mich. Versteckenspielen war so gar nicht seine Art. Überhaupt war Thomas nie ein verspielter Mensch gewesen. Ich lauschte. Da war das nächtliche Zirpen der Grillen, ein Geräusch, das immer da war, das man aber eigentlich nicht wahrnahm. Ganz in der Nähe raschelte es in den Strohresten, die schon jahrzehntelang hier herumlagen, seit den Tagen, in denen das Anwesen tatsächlich einem Farmer gehört hatte.
Eine Maus huschte über den Boden.
Als ich am Traktor vorbeikam, strich ich mit der Hand über die zerschrammte Motorhaube. In diesem Moment wünschte ich, Thomas hätte ein Handy, dann hätte ich versuchen können, ihn anzurufen.
Ich zerbrach mir den Kopf, wo er sonst sein könnte. Unten am Bach vielleicht, wo er Dad gefunden hatte? Ich löschte das Licht in der Scheune und rannte hinauf auf die Anhöhe hinter dem Haus. »Bist du da unten, Thomas?«
Nichts.
Wen konnte ich außer der Polizei noch anrufen? Thomas hatte keine Freunde, bei denen er hätte übernachten können.
Das Ganze war so untypisch für meinen Bruder.
Ich kehrte ins Haus zurück. Ich konnte nicht länger warten. Ich rief die Polizei in Promise Falls an und meldete Thomas als vermisst.
»Sir, wir schicken so schnell wie möglich jemanden zu Ihnen nach Hause«, sagte die Frau in der Notrufzentrale, »aber in der Zwischenzeit brauchen wir eine Beschreibung Ihres Bruders. Fangen wir mit dem Alter an. Wie alt ist er?«
Ich musste kurz überlegen. »Fünfunddreißig? Er ist zwei Jahre jünger als ich.«
»Und seit wann wird er vermisst?«
»Ich weiß nicht. Ich war den ganzen Tag unterwegs und bin gerade erst nach Hause gekommen. Und er war nicht da.«
»Äh, Moment mal, Mr. Kilbride. Wir sprechen hier von einem erwachsenen Mann? Einem Fünfunddreißigjährigen, der möglicherweise das Haus verlassen hat, kurz bevor Sie zurückgekommen sind? Vielleicht wollte er schnell etwas besorgen oder ein bisschen durch die Gegend fahren.«
»Nein, so ist das nicht. Er verlässt das Haus nicht.«
»Vielleicht hatte er einfach die Nase voll vom ständigen Eingesperrtsein.«
Eine Erklärung würde zu lange dauern. »Thomas ist ein Psychiatriepatient. Also, kein richtiger Patient, aber er geht regelmäßig zum Psychiater, und es passt einfach nicht zu ihm, das Haus zu verlassen.«
»Sie haben einen Psychiatriepatienten allein gelassen?«
»Herrgott, so ist – könnten Sie einfach jemand herschicken, dem kann ich dann alles erklären.«
»Wir schicken
Weitere Kostenlose Bücher