Fenster zum Tod
bedankst dich bei mir, weil ich mir Zeit für ihn nehme. Als wär ich ein Babysitter oder jemand, der sich um deine Katze kümmert.«
»Das hab ich doch –«
»Thomas ist ein lieber Kerl«, sagte Julie. »Anständig und gutmütig. Gut, er hat ein paar Besonderheiten. Ist ein bisschen außerhalb der Norm. Ich meine, er hat mir erzählt, wie er dich dazu gebracht hat, nach New York zu fahren und dich nach diesem Tütenkopf umzusehen. Ich geb ja zu, dass das ein bisschen übertrieben war. Tut mir übrigens leid, das ich dich vorhin angemeckert hab.« Ihr Lächeln strafte sie Lügen. »Bist du wirklich extra deswegen in die Stadt gefahren?«
»Ich hatte auch einen geschäftlichen Termin. Ein neuer Auftrag.«
»Wie ist’s gelaufen?«
»Nicht schlecht.«
»Ziehst du nach New York?«
»Nein, das ist was, was ich von zu Hause aus machen kann.«
Sie nickte. »Auf jeden Fall wollte ich dir noch eins zu deinem Bruder sagen. Man darf ihn nicht auf diesen Landkartenfimmel reduzieren.«
Dem hatte ich nichts hinzuzufügen.
»Wusstest du, dass er jede Nacht von eurem Vater träumt?«
Ich wandte ihr das Gesicht zu. »Das hat er dir erzählt?«
»Ja.«
Mir hatte er es nicht erzählt. »Bestimmt vermisst er ihn.«
»Er hat gesagt, dass er im Schlaf, wenn er all die Städte noch mal durchstreift, in Cafés und Restaurants immer wieder euren Vater sieht.«
Das machte mich traurig.
»Und erinnerst du dich an Margaret Tursky?«, fragte mich Julie.
Ich musste nachdenken. »Rotes Haar? Zahnspange?«
»Thomas war richtig verknallt in sie.«
Ich sah sie zweifelnd an. »Kann ich mir nicht vorstellen.«
»Stimmt aber. Er hat’s mir gesagt. Und dabei einen Hähnchenschenkel verdrückt.«
»Über so was reden wir eigentlich nicht, er und ich. Wir halten uns eher ans Tagesgeschäft. Hier geht’s ziemlich rund, seit Dad nicht mehr da ist.«
Sie drehte sich zu mir, so dass sie jetzt seitlich an der Arbeitsplatte lehnte. »Hör mal, ich weiß, das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, und es geht mich auch nichts an. Aber Thomas ist mehr als das, was man von außen sieht. Er erinnert mich an meine Tante, Gott hab sie selig. Sie saß eine Zeitlang im Rollstuhl, und wenn ich mit ihr unterwegs war, in einem Restaurant oder egal wo, dann fragten die immer mich, was sie haben will. ›Möchte Ihre Tante was zu trinken? Möchte Ihre Tante eine Vorspeise?‹ Arschlöcher. ›Fragen Sie sie‹, hab ich dann immer gesagt. Nur weil sie nicht laufen konnte, war sie ja nicht taub. Mit Thomas ist es genauso. Nur weil bei ihm ein paar Schrauben locker sind, und ich meine das nicht abwertend, hat er doch einiges andere auf dem Kasten.« Sie tippte mir mit einem Finger an die Brust. »Und du bist nicht fies.«
»Hat er aber gesagt.«
Sie nickte. »Hat er. Aber gleich danach hat er gesagt, dass du einfach nur das Richtige tun willst. Er hängt sehr an dir, Ray, wirklich. Ich wollte dir nicht ans Bein pinkeln.«
»Nein, du hast ja recht«, sagte ich. »Ich … also wahrscheinlich sehe ich wirklich nur seine, na ja, Behinderung. Und er sieht das überhaupt nicht so. Ich nehme oft nicht den ganzen Menschen wahr.«
Sie kam näher und boxte mir spielerisch gegen die Schulter. »Vielleicht ist das der Grund, warum ich tu, was ich tu. Ich seh mir Sachen gern von allen Seiten an, um mir ein vollständiges Bild zu machen. Ich will mich nicht besser machen als ich bin, und ich seh das Ganze auch nur von außen. Du steckst mittendrin und hast auch sonst eine Menge um die Ohren. Sei nicht zu streng mit dir.«
»Er muss dir vertrauen, wenn er solche Sachen mit dir bespricht.«
»Vielleicht hat ihn nur nie jemand danach gefragt«, sagte Julie. »Beim Hähnchenessen sind wir auf die Highschool zu sprechen gekommen. Apropos Hähnchen«, sie legte sich eine Hand auf den Bauch, »ich glaube, das Zeug ist mir nicht so richtig bekommen.« Sie trank ihr Bier aus. »Das wird helfen.«
»Gestatte mir einen zweiten Versuch, mich zu bedanken, ohne dabei jemand anders runterzumachen.«
Sie lächelte und nickte. »Gern geschehen.« Sie kam noch einen Schritt näher, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste mich flüchtig auf die Wange. »Alles vergeben.«
Ich stellte mein Bier ab und nahm Julie beim Arm. Ich beugte mich zu ihr, um sie zu küssen, allerdings nicht auf die Wange, und sie machte auch keine Anstalten, mich davon abzuhalten. Da rief Thomas von oben.
»Ray!«
Gleich darauf hörte ich ihn die Treppe herunterkommen, ließ Julie los und wich
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