Ferien vom Ich
betrogen - arbeitet und amüsiert sich halb zu Tode, hat mancherlei Schwächen, die sein Leben und vor allen Dingen seine Freude am Leben verkürzen, ist trotz seiner Millionen ein armer, gehetzter Mensch, während dieser John hier keinen liebedienernden Troß, keinen vorteilssüchtigen Freund, aber auch keinen Feind hat, froh und sicher unter seinesgleichen lebt und, wenn er mit einem Genossen im Garten arbeitet, nicht weiß, ob dieser Mann draußen in der Welt ein Fürst oder Minister oder ein kleiner Beamter ist. Sehen Sie, John, das ist ein ganz köstlicher Humor, den wir hier betreiben. Wenn die Leute ihren Namen abgelegt haben und auch alle die gleiche Tracht haben, kennt man den Großen vom Kleinen nicht mehr heraus. Der Geist verrät sie nicht. Daß der Patient während der Dauer der Kur seinen Namen ablegt, ist für den Erfolg für uns eine große Hauptsache. Der Name ist meist die stärkste Kette, die mit der Last und Lust des Alltags verbindet, sie muß in Ferientagen gelöst werden. Und wäre der Name auch ein Schmuck, wie ja der Name eines guten Kaufmanns gewiß ein kostbarer, schwer erworbener Schmuck ist - wer richtig ruhen will, legt allen Schmuck ab. Weniger wichtig ist das Ablegen der gewohnten Tracht, aber doch wichtig genug, bei uns zur Bedingung gemacht zu werden. Und für uns hat es noch das eine Gute: Es hält uns alle albernen Pfauen des Lebens vom Halse, vor allen Dingen eitles Weibervolk; wer zu uns kommt und bei uns bleibt, der meint es ernst mit sich selbst. Im übrigen hoffe ich, daß Ihnen unsere bequeme, gesunde Tracht gefallen wird; auch unsere Damen sind sehr zufrieden mit ihr.
Wovon Sie weiterhin erlöst werden müssen, ist das Geld. Sie haben während Ihres ganzen hiesigen Aufenthalts mit Geld nichts zu tun. Was Sie bei sich tragen, geben Sie an der Kasse ab, es wird Ihnen verwahrt und verzinst bis zu Ihrem Austritt, abzüglich des Betrages für Ihren Kuraufenthalt. John, der Feriengast, besitzt nicht einen Pfennig. Er braucht auch keinen Pfennig, und er ist schon nach kurzer Zeit glücklich, nicht den ganzen Tag über sich Hände entgegenstrecken zu sehen, auf die er Geld legen soll, wie es Herrn Stefenson geschieht, bei dem die Bewegung nach der Brieftasche schon automatisch geworden ist. John hat nur eine Tasche fürs Taschentuch - Geld hat er nicht, Schlüssel, Messer, Taschentoilette, Füllfederhalter, Notizbuch, Brieftasche, Taschenapotheke und aller anderer Ballast wird über Bord geworfen. Auch die Uhr!
Es geht John gar nichts an, wie spät es ist, es ist gänzlich ohne Interesse für ihn, ob es dreizehn Uhr siebzehn oder vierzehn Uhr sechsundzwanzig ist, er braucht nicht zu hetzen, sich nicht zu ängstigen, er hat Zeit, er kommt immer zurecht. Nur die Mahlzeiten darf er nicht versäumen; aber zu ihnen ruft eine Glocke. Oh, Mister Stefenson, Sie werden sehen, wie wohltuend das ist, wenn man nicht am Tage sechzigmal nach der Uhr sehen muß! Die Uhr, die über dem Herzen schlägt, schlägt schneller als das Herz, als wollte sie wie ein Schrittmacher zu immer größerer Eile anspornen - und der Weg führt doch ans Ende des Lebens. Warum sollen wir es so eilig haben, dorthin zu gelangen? Der Schrittmacher wird bei uns außer Tätigkeit gesetzt.
Da nun John mit Mister Stefenson rein gar nichts zu tun hat, geht es ihn auch rein gar nichts an, was diesen amerikanischen Großkaufmann von Weltereignissen aufregt und interessiert. Es geht John nichts an, ob Stefensons Kurse fallen, was in den Parlamenten gekohlt wird oder was im »Völkerbund« für Schindluder getrieben wird, ja, es geht ihn nicht einmal das mindeste an, wer Weltmeister im Boxkampf geworden ist - kurz, John liest keine Zeitungen. Auf dem Fragebogen, den Sie, Herr Stefenson, auszufüllen hatten, steht: >Wie lange lesen Sie durchschnittlich täglich über der Zeitung, wie lange also im Jahre?< Sie haben den täglichen Zeitverbrauch auf dreiviertel Stunden, den jährlichen also auf 274 Stunden berechnet. Wenn man den Tag mit neun Arbeitsstunden annimmt, verwenden Sie aufs Zeitunglesen dreißig Tage, also einen ganzen Arbeitsmonat des Jahres. Und dann kam auf dem Fragebogen die Aufforderung: »Schreiben Sie kurz nieder, was Sie von Ihrer Zeitungslektüre aus dem vorigen und aus dem vorvorigen Jahre noch wissen!« Was Sie vom vorigen Jahre noch wissen, steht auf fünf kleinen Blättern und Sie geben ehrlich an, daß es Ihnen schwere Mühe verursacht hat, diese fünf Blätter zu füllen. Vom vorvorigen Jahre wußten Sie
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