Ferien vom Ich
fast nichts mehr, nur ein paar ganz große Ereignisse standen noch im Gedächtnis. Nun ist ja sicher, daß durch das Zeitunglesen viel latenter, nur im Augenblick nicht bereiter Besitz erworben wird. Aber Sie selbst müssen sich fragen, ob dieser Besitz die Aufwendung eines ganzen Arbeitsmonats des Jahres wert ist. Das Zeitökonomische geht uns übrigens hier nur in zweiter Linie an. Die Hauptsache ist uns: John darf sich nicht das Frühstück verderben lassen, weil Herr Stefenson in eben demselben Augenblick aus der Zeitung einen giftigen Ärger über einen Deputierten saugen würde, der nach seiner Meinung eine idiotische Rede gehalten hat; John betrinkt sich nicht am Abend aus Freude darüber, daß einer Konkurrenz von Mister Stefenson die Butter vom Brot gefallen ist; John disputiert nicht eine Stunde lang darüber, ob das Bündnis zwischen den Staaten Soundso Zustandekommen wird oder nicht; kurz: John verzichtet auf die Peitschenhiebe des Zeitungsstils. Er sagt sich so: Für Herrn Stefenson aus Amerika mögen die nerven-anstrengenden Dinge, die täglich in der Zeitung stehen, wichtig, ja unerläßlich sein; denn Herr Stefenson steht in der harten Schule des Lebens und kann sich um sein Pensum nicht drücken; aber ich - o ich, John, ich habe Ferien, und die ganze Schule geht mich rein gar nichts an.
Es kommt noch eines hinzu - John erzieht sich. Herr Stefenson meint, ohne ihn ginge es nicht. Auch wenn er reist, auch wenn er in einem Bad ist, behält er die Hauptfäden seiner geschäftlichen Angelegenheiten immer in der Hand. Er läßt sich ellenlange Berichte schicken, er liest die Zeitungen, er kabelt, er regt sich auf, freut sich, wettert und ist eigentlich auch auf Reisen immerfort zu Hause, immer im Joch. John pfeift sich eins. John sagt: Wenn Herr Stefenson tot wäre, ginge es auch; folglich geht es auch, wenn Herr Stefenson verreist ist. Vielleicht geht es sogar besser, als wenn er zu Hause ist. Nur nicht zu eitel sein! Frisches Blut tut manchmal gut, und vielleicht kann John Herrn Stefenson zu guter Letzt an der Hand nehmen und sagen: Sei froh, daß du mal ausgeschieden warst, du hast inzwischen glänzende Geschäfte gemacht, so wie ein Spieler meist gewinnt, wenn er einem Vertreter auf einige Minuten seine Karten überläßt.
Im Ferienheim gibt es täglich einen Anschlag, auf dem in wenig Zeilen die Hauptereignisse des Tages mitgeteilt werden. Wer daraus schließt, daß er über einen Punkt unbedingt weitere Auskunft haben müsse, der geht in die Kanzlei, dort liegen dreißig Zeitungen. Kann sich der Betreffende bald beruhigen, dann ist es gut; wenn das nicht der Fall ist, verläßt er die Ferien und geht in die Lebensschule zurück. Bis jetzt sind nur drei Prozent unserer Feriengäste nach der Kanzlei gekommen, um Zeitungen zu lesen; die allermeisten lesen nicht einmal die Anschläge. Sie sind zu ernst; sie sind wie auf einem fremden Stern; die Erdenereignisse gehen sie auf einige Zeit gar nichts an.
Und so wie mit den Zeitungen, ist es mit der Privatkorrespondenz. Sehen Sie sich an, Herr Stefenson, wie es die Leute in den modernen Kurorten treiben. Eine der allergrößten Hauptpersonen ist der Briefträger. Man kann sein Erscheinen nicht erwarten. Vor jeder Ausgabe der Post zwanzig Minuten Nervenvibrieren, innere Unruhe, gespannte Erwartung. Und der Erfolg? Ein paar freuen sich; aber Herrn Mayer hat seine Frau geschrieben, daß sich der Hausmeister ruppig benommen habe, und Herr Mayer ist auf Stunden in menschenfresserischer Laune; das Töchterchen von Frau Ludwig ist vom Tisch gepurzelt, und die Mutter telegraphiert, man solle gleich den Arzt befragen, was ohnehin natürlich schon geschehen ist; Baron Erwin zieht die Stirn in Falten, weil seine Isolde nicht geschrieben hat; der Schriftsteller Niessen kriegt ein Romanmanuskript zurück und bricht fast in Tränen aus über die Idiotie der betreffenden Redaktion; im Herzen der blonden Else steckt eine Ansichtskarte ihres Referendars ein verzehrendes Feuer der Sehnsucht an; der Geheime Oberregierungsrat bekommt das Schreiben eines >Freundes<, das ihm suggeriert, seine Stellung sei erschüttert, und der Frau von Puttbus schreibt die Schneiderin ab. - Die Ärzte können sich errechnen, daß das, was sie in einer Woche aufbauen, manchmal der Briefträger in zehn Minuten einreißen kann.
Und deshalb wünscht das Ferienheim sehnlichst den Briefträger zum Kuckuck, weil er die Ferienruhe stört, weil in seiner schwarzen Tasche meist nichts anderes steckt als
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