Ferien vom Ich
irrsinnig vor Aufregung wegen des Kindes. Es kann ein Unglück passieren!«
Er antwortete nicht, wandte sich um und ging nach Mutters Haus zurück. Ich sah ihm nach, hörte, wie er von innen den Haustürschlüssel umdrehte. Dann eilte ich die Straße hinunter, in der ich Katharina hatte verschwinden sehen.
Ich rannte durch die ganze Stadt, auch stückweise hinaus auf die Landstraßen. Es verging wohl eine Stunde und mehr Zeit; ich fand nichts. Es hatte angefangen zu regnen, und es blies ein rauher Wind. Endlich sah ich ein, daß ich allein nichts ausrichten könne. Ich eilte hinauf nach unserem Heim, überzeugte mich, wie ich schon angenommen hatte, daß die Genovevenklause leer sei, weckte dann Stefenson, Barthel, Piesecke und noch einige andere verläßliche Leute, und wir gingen nach verschiedenen Richtungen auf die Suche.
Morgens drei Uhr kehrte ich todmüde nach Hause zurück. Die anderen waren auch noch nicht lange da. Niemand hatte eine Spur von Katharina entdeckt. . .
Noch ehe aber der späte Morgen graute, wurde die unglückliche Frau gebracht. Ein Waltersburger Bauer, der zeitig nach Neustadt fahren wollte, hatte am Chausseerand ein bewußtloses Weib gefunden und an ihrer Kleidung erkannt, daß sie uns gehörte. Er hatte die völlig durchnäßte Frau auf das Stroh seines Wägelchens gebettet und sie mit einer Pferdedecke zugedeckt.
Ich ließ die Bewußtlose nach einem unserer Krankenzimmer am »Stillen Weg« schaffen und Doktor Michael rufen. Ihn verständigte ich über das Vorgefallene, und wir begannen sofort unsere ärztlichen Maßnahmen. Wir verhehlten uns beide nicht, daß wir vor einer sehr ernsten Aufgabe standen. Sämtliche Männer, die um das traurige Vorkommnis wußten, auch der Bauer, gelobten Stillschweigen.
Ich blieb fast den ganzen Vormittag bei der Kranken. Gegen zehn Uhr schlug sie die Augen auf. Sie lächelte mich an, ohne daß sie bei klarer Besinnung war, und sagte:
»Der heilige Johannes hat mich getauft; nun bin ich rein von Sünden!«
Die Augen fielen wieder zu, öffneten sich aber bald aufs neue. »Ich habe Luise gefunden. Als ich ganz müde war und auf die Straße fiel, ist sie zu mir gekommen.«
Dann wieder tiefe Bewußtlosigkeit.
Gegen Mittag ließ sich meine Mutter bei mir melden. Sie war sehr blaß und rang die Händchen ineinander.
»Um Gottes willen, wie konnte das geschehen?«
Ich sah sie streng an.
»Es konnte geschehen, weil ihr so unbarmherzig wäret, dieser Frau ihr Kind zu entreißen. Sag mir das eine, Mutter, hast du darum gewußt, daß Joachim in die Klause eindringen wollte?«
»Nein, ich habe ihm bloß gesagt, wo das Kind ist, und dann nichts erfahren, bis er Luise brachte.«
»Das ist mir lieb. Und wo ist Luise jetzt?«
»Ich - ich habe sie nach Neustadt gebracht zu einer Freundin von mir. Wir wollten keinen Skandal in Waltersburg oder bei dir hier oben. Joachim wollte auch bald am Morgen fort.« Ich dachte daran, wie sicher der mütterliche Instinkt die unglückliche Katharina geleitet hatte. Auf dem Wege nach Neustadt war sie zusammengebrochen.
»Was wird nun werden?« fragte die Mutter. »Wie steht es?«
»Es steht sehr schlecht. Du kannst deinem Sohne Joachim sagen oder schreiben, daß sein sehnlichster Wunsch, diese Frau möge sterben, wahrscheinlich in Erfüllung gehen wird. Er mag sich einstweilen freuen.«
Die Mutter weinte.
»Fritz, du mußt nicht so von ihm denken. Er hat doch auch viel gelitten. Gestern hat er unrecht gehandelt. Er ist dann die ganze Nacht wach geblieben, und ich glaube, wenn die Frau jetzt stirbt, wird es sein Gewissen sehr bedrücken. Er ist ja deswegen auch noch nicht abgereist.«
Ich lachte. »Hab keine Sorge, Mutter, Joachims Gewissen ist recht robust.«
»Ihr werdet euch nicht verstehen.«
»Nein. Niemals! Mit solch einem Kerl niemals!«
Sie saß noch ein Weilchen da. Ich fand kein gutes Wort für Joachim, auch nicht für sie, fragte auch nicht, was die beiden wohl nun mit Luise vorhätten, und so ging sie . . .
Unsere Patientin war schwer krank, und eine heftig einsetzende Lungenentzündung nahm uns bei der schlechten Beschaffenheit des Herzens fast alle Hoffnung.
Am zweiten Tage abends wurde von Waltersburg aus wieder nach Katharinas Befinden gefragt.
Ich schrieb auf einen Zettel:
»Joachim mag sich noch etwas gedulden; es ist bald aus.« Am selben Abend hörte ich draußen vor den Fenstern ein helles Kinderlachen. Da sah ich Luise draußen. Stefenson hatte das Mädel um den Hals gefaßt und führte sie
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