Ferien vom Ich
mir die Hand aufs Knie:
»Sehen Sie, alter Junge, so etwas tut weh. Das begreife ich. Aber da müssen Sie auch begreifen, daß ich Sie nicht allein lassen kann, daß ich mich um Sie kümmern muß. Ich bitte Sie, daß Sie mir einige Minuten zuhören. Sie brauchen mir gar nicht zu sagen, was für Gefühle Sie bewegen, aber ich bitte Sie, mir zu erlauben, daß ich als Ihr Freund zu diesen
Gefühlen Stellung nehme. Zunächst mal, ob Ihrer Mutter der Aufenthaltswechsel auch bekommen wird. Daran denken Sie wohl an erster Stelle. Nun, ich meine, sie ist von guter Natur; Rio ist ein ganz gesunder Wohnort; Ihr Bruder ist Arzt, der sie ständig überwachen kann; außerdem ist er in der Lage, ihr das Leben so angenehm wie möglich zu gestalten, dann, Ihre Mutter sieht einmal die Welt. Nicht mehr mit der Aufnahmefähigkeit, der Spannkraft, dem Überschwang der Jugend, aber mit dem ganzen Hochgenuß, mit dem ein feiner, reifer Kopf Schönheiten dieser alten Erde betrachten kann. Und gar Rio de Janeiro! Dort hören die Tauben die Vögel singen, dort sehen die Blinden die Blumen blühen; das wissen Sie ja selbst, Ihre Mutter wird leben wie im Paradies. Aber das wird freilich alles nicht hindern, daß sie das Heimweh bekommen wird - nach dem alten Nest da unten - nach dem Hause am Brunnen - auch nach Ihnen. Schütteln Sie nur nicht den Kopf, lieber Freund; eine Mutter liebt immer am meisten das ihrer Kinder, das nicht bei ihr ist. Und da denken Sie nur daran, daß sie eines schönen Tages wieder da sein wird. Inzwischen lassen Sie unten in dem Hause am Markt alles, wie es ist; lassen Sie alle Tage die Möbel wischen, alle sechs Wochen frische Gardinen aufstecken, im Winter die Stuben heizen, im Sommer die Polster einmotten, auch Kupfer und Zinn in der Küche putzen und den Kanari gut im Futter halten, damit Ihre Mutter alles in Ordnung findet, wenn sie wiederkommt.«
»Stefenson«, sagte ich dankbar, »Sie sind ein seelenguter Mensch.«
Das verdroß ihn. Er sagte zunächst gar nichts, spuckte dann mit großem Geschick bis zum gegenüberliegenden Wegrand und meinte endlich in gänzlich verändertem Ton:
»Sie verstehen mich immer noch nicht. Das müssen Sie doch wissen, daß so ’n alter Fuchs wie ich immer seine Hintergedanken hat, wenn er mal ’nen Abstecher ins Gefühlsmäßige macht. Zum Beispiel jetzt habe ich gerade ein wichtiges Geschäft, bei dem Sie unbedingt mitwirken oder dem Sie wenigstens zustimmen müssen, und da ist es mir natürlich verdrießlich, wenn Sie in verkaterter Stimmung sind.«
»Und deswegen suchten Sie mich zu trösten?«
»Ja, nur deswegen!«
Ich lächelte. Er sah es und wurde erbost.
»Mensch, lachen Sie nicht! Was gehen mich denn Ihre Familienangelegenheiten an? Glauben Sie, daß ich mich bei meinen tausend Geschäftsfreunden darum kümmern kann, ob sie mal Krach mit einem Bruder haben, ob mal ihre Mutter verreist, ob die Motten in ihre Möbel kommen oder ihr Kanarienvogel verhungert? Hätt’ ich viel zu tun. Aber wenn zwei Feldherren miteinander in den Krieg ziehen und der eine von ihnen Zahnschmerzen hat, hat der andere dafür zu sorgen, daß der Zahn gezogen oder wenigstens plombiert wird. Sonst wird nichts aus ihrer Chose.«
Ich lächelte nicht mehr, aber ich erwiderte auch nichts.
Da sagte Stefenson fast niedergeschlagen:
»Wenn Sie etwas Geschäftssinn hätten, hätten Sie mich längst gefragt, um was für ein Geschäft es sich handelt.«
»So sagen Sie es mir - bitte!«
Er war verstimmt.
»Nun, ich kann ja den Weihnachtsberg auch ohne Sie von den Neustädtern zurückkaufen.«
»Den Weihnachtsberg wollen Sie zurückkaufen?«
»Ich sagte es Ihnen eben. Wir müssen unser Heim bis zum Gipfel des Berges ausdehnen, sonst spucken uns die Neustädter auf den Kopf.«
»Sie werden den wichtigen Aussichtspunkt nie hergeben.«
»Trösten Sie sich. Wozu habe ich in der Neustädter Umschau seit drei Wochen Artikel gegen den Weihnachtsberg veröffentlicht? Zum Beispiel, daß ein Besuch von Neustadt aus außerordentlich zu wünschen übrig lasse, weil der viel bequemer zu erreichende Ochsenkopf eine viel bessere Aussicht bietet, daß die Rentabilität außerordentlich gering sei, die Pächter nichts zu leisten vermöchten und solchen Kram mehr. Die Neustädter sind bereits mürbe. Denn sie sind wieder mal im Dalles. Nun habe ich vorgestern einen Artikel gebracht, man solle den Weihnachtsberg, wenn sich eine gute Gelegenheit böte, an irgendeine neutrale Person je eher, je besser verkaufen,
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