Ferne Tochter
Ehering.
Ich stelle mein telefonino aus, ziehe den Reißverschluss meiner Tasche zu und warte.
Von irgendwoher klingelt es mehrmals, vermutlich aus einem der Zimmer. In der Ferne klappert Geschirr, ein Fernseher läuft, der weißbärtige Mann schäkert mit einer eleganten Dame im Rollstuhl.
»So, da bin ich.« Die Pflegerin streicht sich eine graue Strähne aus der Stirn. Sie ist kaum älter als ich. »Zu wem möchten Sie?«
»Zu Frau Wolf.«
»Oh, die wird sich freuen. Wie ist Ihr Name?«
»Judith Velotti.«
»Das Zimmer von Frau Wolf ist im zweiten Stock. Ich bringe Sie hin.«
Ich folge ihr zum Aufzug. Vielleicht muss ich nichts erklären.
»Sie bekommt nur selten Besuch. Sind Sie eine Kollegin aus ihrer Schule?«
»Nein.«
Die Pflegerin drückt auf den Knopf und schaut mich fragend an. »Eine Nachbarin?«
»Ich … bin ihre Tochter.«
Die Freundlichkeit verschwindet aus ihrem Gesicht. Wir steigen nicht in den Fahrstuhl.
»Ich habe Sie hier noch nie gesehen.«
»Nein, ich bin heute zum ersten Mal da.«
Sie runzelt die Stirn. Hat sie so etwas in ihrer beruflichen Laufbahn noch nicht erlebt?
»Warten Sie bitte einen Moment. Ich muss erst mit der Heimleiterin sprechen.«
Sie will nicht riskieren, dass Mutter bei meinem Anblick einen weiteren Schlaganfall bekommt.
Zehn Minuten später werde ich in das Büro der Heimleiterin gebeten. Eine stämmige Frau von Ende fünfzig mit dunkelrot gefärbten Haaren und großen, silbernen Ohrclips streckt mir ihre Hand entgegen.
»Grundmann ist mein Name. Ich leite dieses Haus. Bitte nehmen Sie Platz.«
Helle Möbel, gestreifte Gardinen, Landschaftsbilder. Wenn Mutters Zimmer so aussieht, hat sie Glück.
Frau Grundmann setzt sich an ihren Schreibtisch und betrachtet mich. »Meine Mitarbeiterin sagte mir, dass Sie Ihre Mutter besuchen möchten.«
»Ja. Ich habe von meiner früheren Lehrerin erfahren, dass sie einen schweren Schlaganfall hatte und seitdem hier lebt.«
»Es geht ihr von Tag zu Tag schlechter. Sie scheint sich aufgegeben zu haben.«
Auf dem Schreibtisch steht ein Foto von Frau Grundmann mit einer jungen Frau, die ein Baby im Arm hält. Alle lachen, selbst das Baby. Drei Generationen einer glücklichen Familie.
»Ich weiß nicht, ob es gut für meine Mutter ist, mich zu sehen …«
»Wann hatten Sie das letzte Mal Kontakt mit ihr?«
»Vor zwanzig Jahren.«
Frau Grundmann seufzt. »Als Ihre Mutter zu uns kam, haben wir versucht, Angehörige zu finden. Eine ältere Nachbarin sagte uns, dass Frau Wolf eine Tochter habe, die als verschollen gelte.«
»Ja …«
»Ihre Mutter ist gelähmt und kann nicht mehr sprechen.«
»Ich weiß.«
»Aber sie ist bei klarem Verstand und kann noch nicken oder den Kopf schütteln. Ich werde sie fragen, ob sie mit Ihrem Besuch einverstanden ist.«
»Danke.«
»Sie können gern hier warten.«
Ich sehe ihr nach, wie sie mit festen Schritten den Raum verlässt.
Neben der Tür hängt ein gerahmter Text, der mir vorher nicht aufgefallen ist.
Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln.
Der Spruch hing auch in Vaters Arbeitszimmer.
Es duftet nach gebratenem Hähnchen. Ich habe Hunger. Mutter steht in der Küche und rührt in einer Sauce. Dein Vater erwartet dich. Wieso? Tu nicht so scheinheilig. Mir schießt das Blut in den Kopf. Wer hat mich verpetzt? Ich schlurfe aus der Küche. Heb die Füße, ruft Mutter mir nach, du bist doch keine alte Frau. An der Haustür bleibe ich stehen. Soll ich weglaufen? Jetzt sofort? Die beiden holen mich niemals ein. Judith, wo bleibst du?, höre ich Vater von oben rufen. Ich gehe langsam die Treppe hinauf. Die Tür seines Arbeitszimmers steht offen. Er sitzt im Ledersessel und liest in der Bibel. Warum warst du nicht im Kindergottesdienst? Wie kommst du darauf? Nun lüg nicht auch noch!, schreit er und springt auf. Wie oft hast du schon geschwänzt? Ich zucke mit den Achseln. Was soll das heißen?, brüllt er. Die Geschichtenerzählerin ist so langweilig, murmele ich. Das ist kein Grund. Für mich schon. Nun werd nicht frech. Warum kann ich die Bibeltexte nicht zu Hause lesen? Red kein dummes Zeug. Du sollst sonntags in die Kirche gehen, damit eine gläubige Christin aus dir wird. Ich muss nicht in die Kirche gehen, um zu glauben. Du weißt mit deinen zehn Jahren überhaupt nicht, wovon du redest!, fährt er mich an. Schweißperlen glänzen auf seiner Stirn. Wie stehe ich denn da, als Religionslehrer, mit einer Tochter wie dir? Keine Ahnung, antworte ich, ist mir
Weitere Kostenlose Bücher