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Ferne Tochter

Ferne Tochter

Titel: Ferne Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Ahrens
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auch egal. Da knallt er mir eine. Spinnst du!, schreie ich. Vater holt aus und schlägt mich auf die andere Wange. Du landest noch im Internat! Da wirst du lernen, wie man gehorcht!
     
    Es klopft und ein Pfleger kommt herein, ohne dass ich ›herein‹ gerufen hätte. Er sieht mich erstaunt an, murmelt etwas Unverständliches und schließt leise die Tür hinter sich.
    Das Handy von Frau Grundmann empfängt eine SMS und gleich darauf noch eine, vielleicht von ihrer glücklichen Tochter, die Neues vom Enkelkind zu berichten hat.
    Ich starre auf den hellgrünen Teppichboden und frage mich, was im zweiten Stock passiert sein könnte. Wenn ich gleich ein Martinshorn hören sollte, würde es mich nicht wundern. Ich hätte nicht kommen dürfen.

[home]
    8.
    D ie Tür geht auf, und Frau Grundmann steht vor mir. Ihr Gesicht ist ernst.
    »Es tut mir leid, dass es etwas länger gedauert hat.«
    »Ich vermute, meine Mutter will mich nicht sehen.«
    »Die Nachricht, dass Sie hier sind, hat sie völlig überwältigt. Sie konnte es zuerst gar nicht glauben.«
    Ich schlucke. Habe ich insgeheim gehofft, ich könnte gleich wieder gehen?
    »Wir haben sie jetzt etwas beruhigt. Bitte kommen Sie.«
    Im Aufzug fragt mich Frau Grundmann, ob ich schon einmal einen Schlaganfallpatienten gesehen hätte. Ich schüttele den Kopf. Meine Mutter habe eine sehr umfassende rechtsseitige Lähmung. Ich solle bei ihrem Anblick nicht erschrecken.
    Der Aufzug hält, wir steigen aus, ich habe Angst.
    Nach wenigen Schritten bleiben wir vor einer Zimmertür stehen.
    »Ich halte es für sinnvoll, dass ich zunächst mit hineingehe, um zu sehen, wie Ihre Mutter mit der Situation zurechtkommt.«
    Ich nicke.
    »Wenn alles gutgeht, ziehe ich mich zurück.«
    Soll ich ihr sagen, dass ich nicht weiß, ob ich mit Mutter allein sein kann? Ich sage nichts.
    Frau Grundmann klopft und drückt die Klinke herunter. Ich spüre das schnelle Pochen in meinem Hals.
    »Frau Wolf, da sind wir.«
    Der Aufschrei bleibt mir in der Kehle stecken. Diese dicke Frau mit dem schiefen Gesicht soll Mutter sein? In sich zusammengesunken sitzt sie im Rollstuhl und schaut mich aus einem Auge an, über dem anderen hängt das halbgeschlossene Lid. Speichel läuft ihr aus dem verzogenen Mundwinkel. Die Spitzen ihrer dünnen, grauen Haare sind strohgelb, eine letzte Erinnerung ans Blondieren. Über der Oberlippe hat sie einen länglichen Leberfleck. Den erkenne ich wieder.
    »Mutter«, sage ich leise.
    Sie beginnt zu weinen.
    Ich gehe langsam auf sie zu, hocke mich hin und greife nach ihrer Hand. Es ist die falsche, die schlaffe; erschrocken lasse ich sie los.
    »Wie gesagt, rechts ist alles gelähmt«, meint Frau Grundmann und wendet sich zur Tür. »Nehmen Sie die linke Hand. In der hat sie noch Gefühl.«
    Mit der linken presst Mutter ihre bauchige Handtasche an sich.
    »Frau Wolf, Sie können die Tasche loslassen. Ihre Tochter wird sie Ihnen nicht wegnehmen.«
    Mutter gibt einen Laut von sich, den ich nicht deuten kann. Sie weint nicht mehr.
    Ich warte, wie sie sich entscheidet. Betrachte ihre graue Fleecejacke, über der sie ein Lätzchen trägt, ihre ausgebeulte Trainingshose, die braunen Halbschuhe mit den Klettverschlüssen. Wann ist sie so dick geworden? In den Wechseljahren? Nach Vaters Tod? Früher machte sie eine Diät, sobald sie nicht mehr in Kleidergröße sechsunddreißig passte.
    Frau Grundmann zuckt die Achseln.
    »Frau Wolf, ich gehe jetzt. Wenn was sein sollte … Sie haben ja Ihre Klingel.«
    Mutter nickt, lässt für einen Moment die Tasche los, greift nach der Klingel, die an ihrem Rollstuhl hängt und schnappt sich wieder ihre Tasche. Sie will meine Hand nicht. Ich stehe auf.
    Wenn was sein sollte. Was meint sie damit? Dass ich mich danebenbenehme? Mutter aufrege? Ihr weh tue?
    Beide schauen wir zur Tür. Frau Grundmann geht. Wir sind allein.
    »Claudia hat mich angerufen«, sage ich nach einer Weile.
    Sie zieht ihre linke Augenbraue hoch.
    »Wir hatten all die Jahre keinen Kontakt. Sie hat durch Zufall erfahren, dass ich in Rom lebe.«
    Mutter ächzt. Es klingt wie, wusste ich’s doch.
    »Dann hat sie einiges unternommen, um meine Telefonnummer herauszufinden«, fahre ich fort. »Ihr war aufgefallen, dass das Haus einen vernachlässigten Eindruck macht.«
    Mutters Lippen zittern.
    »Ich wollte erst nicht kommen, aber … es hat mir keine Ruhe gelassen.«
    Sie schließt ihr linkes Auge. Ist sie auf dem rechten, halbgeschlossenen Auge blind, oder sieht sie mich durch

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