Ferne Tochter
Küche scheint endlos. Waren die Wände nicht früher dottergelb? Jetzt sind sie weiß. Große, gerahmte Fotos zeugen von Reisefreude. Vater vor dem Taj Mahal, Mutter an einem Strand, im Hintergrund der Tafelberg. Die Küche erkenne ich nicht wieder. Ein schwarz-weiß-rotes Design statt der rustikalen Kiefernmöbel. Schneewittchen im gläsernen Sarg. Ich entdecke keine einzige schmutzige Tasse. Antonia Bremer hat gründlich aufgeräumt.
Ich humpele zurück durch den Flur und betrete das Wohnzimmer. Auch hier ist alles neu. Rote Ledermöbel, weiße Bücherregale, ein Glastisch mit Stahleinfassung, Aluminiumlampen, ein Teppich mit abstraktem, schwarz-rotem Muster. Derselbe Stil, dieselben Farben finde ich im Esszimmer nebenan. Hier hat sich ein Innenarchitekt verwirklicht. Woher hatten sie so viel Geld? Von Opa war nichts zu erwarten.
Ich schleppe mich die Treppe hinauf. Im Flur liegt der buntgestreifte Läufer, den wir Anfang der achtziger Jahre bei IKEA gekauft haben. In Vaters Arbeitszimmer ist auch alles unverändert. Die Bibel steht im Bücherregal ganz vorne. Im Badezimmer blicke ich auf hellblaue Kacheln, das beschädigte Emaille in der Wanne, den blau-weiß-gemusterten Duschvorhang.
Vor der Schlafzimmertür halte ich inne. Wie alt war ich, als ich hier stand und Vaters erbarmungslose Sätze hörte? Höchstens sieben.
Ich hätte so gern noch ein Kind, jammert Mutter, am liebsten einen Sohn. Nun hör endlich auf mit diesem Thema!, schreit Vater. Du wirst ja schon mit Judith kaum fertig. Das stimmt nicht, protestiert Mutter. Merkst du gar nicht, wie sie dir auf der Nase herumtanzt?, schreit Vater. Es wäre gut, wenn sie einen Bruder hätte, fährt Mutter fort. Rita, wie oft soll ich dir noch sagen … Die Ärzte wissen auch nicht weiter, unterbricht Mutter ihn. Vielleicht liegt es ja an dir. An mir?, schreit Vater. Meine sechs Geschwister haben alle mindestens drei Kinder. Bei uns in der Familie sind die Gene in Ordnung. Du könntest dich wenigstens mal untersuchen lassen, schlägt Mutter vor. Ich denke nicht daran, schreit Vater. Und was hältst du davon, wenn wir ein Kind annehmen?, fragt Mutter. Es gibt so viele Kinder ohne Eltern. Ein fremdes Kind?, brüllt Vater. So weit kommt das noch.
Ich öffne die Tür. Schwere Kiefernmöbel, blaugestreifte Bettwäsche, fleckige Bettvorleger, gelbe Gardinen, Blumenbilder von Claude Monet und Emil Nolde. Alles wie früher. Nur den PC auf Mutters Schreibtisch kenne ich nicht.
Und mein Zimmer? Langsam drücke ich die Klinke herunter.
Ich schlucke. Der Raum ist leer. Selbst das Rollo fehlt. An der Decke hängt ein Kabel mit losen Drähten. In den Wänden stecken ein paar Heftzwecken mit den Resten meiner Poster. Die breiten Spalten zwischen den Dielen starren vor Schmutz.
Was habe ich erwartet? Meine Stofftiere hier wiederzufinden?
Ich trete ans Fenster. Das alte Hinterhaus hat sich in einen Bungalow mit Dachterrasse verwandelt. Haben sie nach Opas Tod die Werkstatt verkauft und damit die neue Einrichtung finanziert?
Ich gehe langsam durchs Zimmer, bis in die Ecke, wo mein Schreibtisch stand. Sehe die Bleistiftstriche an der Wand. Vier Striche und ein Schrägstrich bedeuteten fünf Tage. Für jeden Tag der Schwangerschaft gab es einen Strich. Zweihundertfünfundsechzig Striche in dreiundfünfzig handlichen Bleistiftpäckchen.
Viertel vor neun. Ich liege in meinem Bett, habe wieder nicht geschlafen. Seit Stunden zieht und zwickt es in meinem unförmigen Bauch. Sind das die Wehen? Geht es jetzt los? Ich habe Angst. Mutter und Vater sind in der Schule. Frau Hildebrandt auch, aber sie hat gesagt, ich könnte sie jederzeit anrufen. Plötzlich wird es nass zwischen meinen Beinen. Ich stehe auf, ziehe mich an, stopfe eine Binde in die Unterhose und nehme meinen gepackten Rucksack. Wo ist das Portemonnaie mit dem Taxigeld? Mir wird heiß. Ich muss das Geld finden. Mein Unterleib krampft sich zusammen. Ich stöhne auf. So schlimm war es noch nie. Wo ist das Geld? Ich greife in meine Jeansjacke. Da ist es. Ich ziehe die Jacke an, setze den Rucksack auf und mache ein paar Schritte. Wieder ein Krampf. Ich kauere mich hin, versuche tief durchzuatmen. Wenn ich es nicht bis zum Telefon schaffe, bin ich verloren. Ruhig, ganz ruhig. Für ein Taxi ist es zu spät, ich muss den Notarzt rufen. 112 . Ich krieche bis zum Treppengeländer, ziehe mich langsam daran hoch und setze den Fuß auf die erste Stufe. Wieder ein Krampf. Nicht aufgeben.
Panik steigt in mir hoch.
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