Ferne Tochter
Stimme.
Ich sehe eine Frau mit Mikrofon und energischem Blick. Sie hält das Fähnchen eines Reiseveranstalters in der Hand.
»Was fällt Ihnen ein?«, fauche ich. »Haben Sie das Schild nicht gesehen?«
»Sie sprechen ja deutsch.«
Hinter ihr drängt die Gruppe.
»Verlassen Sie sofort die Kapelle!«
»Ist das die berühmte Verkündigung?«, kreischt jemand im Hintergrund.
»Lass mich auch mal sehen.«
Mein Gerüst wackelt.
»Verschwinden Sie!«
In dem Moment kommt Signor Meloni mir zu Hilfe. Er droht mit der Polizei.
Murrend verzieht sich die Gruppe.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie Deutsch können.«
»Ich bin Deutsche.«
»Wirklich?« Der Küster kann seine Überraschung nicht verbergen. »Das sieht man Ihnen nicht an.«
»Wie sieht eine Deutsche denn aus?«, frage ich schmunzelnd.
»Korrekter … und nicht so elegant wie Sie.«
»Vor allem in meinem Overall.«
»Ja, sogar in Ihrer Arbeitskleidung.«
»Danke, Signor Meloni.«
Ich stecke mir die Stöpsel in die Ohren, eine halbe Stunde arbeite ich noch. Vielleicht regnet es dann nicht mehr.
Ich bin fast fertig mit den Flügeln. Morgen werde ich mit dem Gesicht des Engels anfangen. Ein seitliches Porträt. Der Lichteinfall spiegelt sich auf der Haut, lässt die Wange und die Schläfe hell leuchten, ein Eierschalton mit etwas Weiß, Gelb, Grau. Zum Nasenflügel und zu den Lippen hin kommen Apricot und Zimt hinzu, über dem Augenlid sogar etwas Lindgrün.
Dieselbe Farbmischung finde ich auf den gekreuzten Händen. Ich halte inne. Was ist mit dem Daumen der rechten, die die Lilie hält?
Ich greife nach meiner Lupe. Das obere Drittel ist rotbraun wie die Ärmel des Gewands. Ist dies eine Beschädigung, oder hat Filippino Lippi hier einen Fehler gemacht? Ich kann es nicht eindeutig feststellen. Es ist auch möglich, dass Lippi den Daumen mit Absicht so gemalt hat, als Folge einer Verletzung. Können Engel sich verletzen?
Das Fresko solle im alten Glanz erstrahlen, lautet mein Auftrag. Ich könnte mühelos die Hauttöne der anderen Finger auf das obere Daumenglied übertragen. Aber ist das die richtige Entscheidung? Mir gefällt die Idee der Verletzbarkeit des Engels. Und wenn es ein Fehler Lippis war, habe ich nicht das Recht, ihn zu korrigieren. Selbst im Fall einer Beschädigung bin ich mir auf einmal nicht mehr sicher, ob ich noch zu dem stehe, was ich seit Jahren vertrete. Warum soll das Beschädigte nicht sichtbar bleiben?
Ich werde den Daumen so lassen, wie er ist.
Der Regen hat aufgehört. Es ist zehn, zwölf Grad kühler als heute Mittag. Ich ziehe meine Strickjacke an. Überall gibt es tiefe Pfützen. Kein Tag, um Walken zu gehen. In zwei Stunden treffe ich Selina. Ich beschließe, vorher nicht nach Hause zu fahren.
Am Kiosk kaufe ich mir eine
Repubblica,
setze mich ins Caffè della Pace und bestelle einen Espresso. Francesco und ich haben damals draußen gesessen und Prosecco getrunken, es war eine warme Sommernacht.
War er jemals wieder in der Via del Corallo, um Pizza zu essen? Nicht zusammen mit mir. Ich habe es ein paarmal vorgeschlagen, er hat immer abgewunken. Fand er es peinlich? Wollte er vermeiden, dass jemand in mir die Kellnerin wiedererkennt oder mich mein ehemaliger Chef begrüßt? Es hätte mir nichts ausgemacht.
Ich klopfe. Herein, ruft Luigi. Er sitzt im Hinterzimmer über seinen Abrechnungen, der Raum ist verqualmt wie immer. Setz dich doch. Ist er noch dicker geworden? Seit drei Jahren arbeite ich hier. Es ist meine Welt. Ich schlucke. Na, was gibt’s?, fragt er und bietet mir eine Zigarette an. Ich lehne ab. Hast du das Rauchen aufgegeben? Ja. Alle Achtung, ich schaffe das nicht mehr. Er zündet sich eine neue Zigarette an der alten an. Nun mal raus mit der Sprache. Luigi nickt mir aufmunternd zu, so wie an dem Tag, als er mich eingestellt hat, eine Siebzehnjährige, die vorgab, achtzehn zu sein und noch nie gekellnert hatte. Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass ich eine Ausbildung machen werde. Heißt das, du wirst aufhören? Ja. Wann? Sobald du Ersatz für mich gefunden hast. Luigi sieht mich traurig an. Du bist meine beste Kellnerin. Viele Gäste wollen nur von dir bedient werden. Die Arbeit hat mir immer Spaß gemacht, sage ich, aber ich will lernen, Bilder zu restaurieren. Was für Bilder?, fragt er. Ölgemälde, Fresken. Aha. Ich hatte keine Ahnung, dass du dich für so was interessierst. Es ist mein Traum. Braucht man nicht Geld für die Ausbildung? Ja, ich … Du könntest an zwei Abenden pro
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