Ferne Tochter
Soll der vermutete ursprüngliche Zustand angestrebt werden, das Beschädigte also ausgebessert, Fehlendes ergänzt werden? Oder soll sichtbar bleiben, was bereits zerstört ist? Ich neige dazu, mich am Original zu orientieren und den Betrachter nicht durch einarmige Figuren oder ein Loch in der Landschaft zu irritieren. Meine Auftraggeber sind nicht immer mit mir einer Meinung.
»Ist es dir hier draußen nicht zu warm?«
Ich schrecke hoch, habe Francesco nicht kommen hören.
»Und wenn schon … ein schöner Abend.«
Er setzt sich zu mir, legt seine Hand auf meine.
»Entschuldige, dass es so spät geworden ist. Es gab in der Kanzlei noch vieles zu regeln.«
»Habt ihr wieder Ärger?«
»Nein.« Er streicht mir über die Haare. »Ich möchte dir etwas vorschlagen.«
»Was?« Ich ahne, dass mir Francescos Idee nicht gefallen wird.
»Lass uns morgen für eine Woche nach Sardinien fahren. Dort weht im Moment ein leichter Wind. Wir können segeln, schwimmen, entspannen.«
»Aber du weißt doch, wie wichtig es mir ist …«
»Dieses alte Fresko ist schon so lange beschädigt«, unterbricht er mich. »Wieso muss es ausgerechnet jetzt restauriert werden? Du bist in keiner guten Verfassung und deshalb nicht voll belastbar. Wahrscheinlich liegt es an der Hormonbehandlung; die hat dich ziemlich mitgenommen.«
»Es geht um meinen Arbeitsprozess. Nach der Unterbrechung in der letzten Woche habe ich heute wieder einen Zugang gefunden.«
»Und warum soll dir der verlorengehen, nur weil du ein paar Tage Ferien machst? Im Gegenteil …«
»Irgendwann in den nächsten Wochen muss ich wieder nach Hamburg fahren. Dann werde ich auch nicht arbeiten können.«
»Ich dachte, du würdest dich freuen.«
»Mir steht jetzt nicht der Sinn nach Urlaub. Ist das so schwer zu begreifen?«
Er gibt mir einen Kuss. »Denk noch mal in Ruhe darüber nach.«
Ich kann nicht einschlafen. Bin ich zu streng mit mir? Ich habe hart gekämpft in diesem Beruf, nehme mir weniger Freiheiten heraus als andere. Manche Kollegen sehen mich schräg an, weil Francesco aus einer reichen Familie stammt und als Anwalt ein hohes Einkommen hat. Ich bin auf einen eigenen Verdienst nicht angewiesen, aber es bedeutet mir viel, dass ich für meinen Lebensunterhalt selbst sorgen kann.
Wir werden die Reise nach Sardinien verschieben. Oder Francesco fährt allein.
Er ist enttäuscht. Ich spüre es, als er am nächsten Morgen seinen Cappuccino beiseiteschiebt und aufsteht, ohne mich anzusehen.
»Ich sage alles ab und fahre ins Büro.«
»Es tut mir leid …«
Er schweigt.
»Heute Abend treffe ich mich wahrscheinlich mit Selina.«
»Dann wird es sicher spät.«
Ich arbeite, lasse mich durch nichts ablenken, mein telefonino habe ich ausgestellt.
In der Mittagspause lese ich die SMS von Selina.
Essen um acht? Sehr gute Pizzeria in der Via del Corallo.
Habe ich ihr nie erzählt, dass ich Francesco dort zum ersten Mal gesehen habe?
Es ist früh am Abend. Ein großer, schlanker Mann in einem dunkelblauen Anzug kommt herein. Weißes Hemd, dezent gestreifte Krawatte, teure Schuhe. Manager, Banker, Anwalt. Er schaut sich um, setzt sich an den Tisch am Fenster. Ich bringe ihm die Karte. Er lächelt. Seine Haare werden schon grau. Ich warte am Tresen, eine Minute, zwei Minuten. Ich gehe an seinen Tisch zurück. Eine Pizza quattro stagioni bitte, und ein Glas Merlot. Ich nicke, sage nichts. Beim Servieren verschütte ich etwas von seinem Wein. Macht nichts, sagt er und lächelt wieder. Er isst alles auf, einen Nachtisch möchte er nicht. Ich bringe ihm die Rechnung. Wann endet Ihre Schicht? Um zehn. Darf ich Sie anschließend zu einem Drink ins Caffè della Pace einladen? Es liegt gleich hier um die Ecke. Er ist nicht der erste Gast, der mich einlädt. Bisher habe ich immer abgelehnt. Heute sage ich zu.
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20.
A m späten Nachmittag wird es plötzlich dunkel in der Kirche. Ein Gewitter bricht los, direkt über uns. Kurz darauf höre ich ein Krachen.
»Nebenan muss ein Blitz eingeschlagen haben«, ruft Signor Meloni mir zu. »Aber in unserer Kirche sind wir sicher.« Er bekreuzigt sich.
Es beginnt zu regnen. Ich versuche weiterzuarbeiten.
Immer mehr Touristen strömen herein, nutzen das kostenlose Dach über dem Kopf. Das Geplauder über den Wetterwechsel geht mir auf die Nerven. Ich bücke mich nach meinem Rucksack, hoffentlich habe ich meine Ohrstöpsel eingepackt.
»Lassen Sie uns trotzdem mal kurz gucken«, sagt unter mir eine
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