Ferne Tochter
Hand. Geh weg, rufe ich. Er blickt zu mir hoch. Aus seinen Augen trieft eine gelbe Flüssigkeit. Widerlich. Ich haste weiter, höre sein Hecheln hinter mir. Ich will keinen Hund, ich will nach Hause. An der Aurelianischen Mauer atme ich auf. Es ist nicht mehr weit. Ich schaue mich um, der Hund ist verschwunden. Ich renne. Turmfalken umschwirren meinen Kopf. Ich halte meine Arme schützend vors Gesicht. Ich erreiche unser Haus, ich schließe auf, der Briefkasten ist leer. Mein Herz stockt. Der Fahrstuhl klemmt, ich laufe die Treppe hinauf. Die Wohnungstür ist nur angelehnt. Hallo, rufe ich. Keine Antwort. Francesco sitzt im Wohnzimmer, er hält einen Brief in den Händen. Deine Mutter hat mir geschrieben. Er reicht mir den Brief, ich sehe ihre zittrige Schrift. Vier Wörter. Ist das die Wahrheit? Ich nicke.
Jemand streicht mir über die Schulter. Ich wache auf.
»Du bist so unruhig.«
»Ich habe schlecht geträumt.«
»Es ist zehn nach zwei.«
»Tut mir leid …«
Er steht auf. »Ich ziehe ins Gästezimmer um.«
»Findest du das nicht etwas übertrieben?«
»Nein. Ich habe morgen einen wichtigen Termin und muss ausgeschlafen sein.« Er nimmt seine Bettdecke, sein Kopfkissen, seinen Wecker. »Wenn wir jetzt auf Sardinien wären, hätten wir diese Probleme nicht.«
»Ach, Francesco …«
»Du redest neuerdings auch im Schlaf.«
Mir bricht der Schweiß aus.
»Vielleicht sollten wir über getrennte Schlafzimmer nachdenken.«
»Das ist doch Unsinn.«
»Wieso? Ich kenne eine Menge Leute, die das für eine gute Lösung halten.«
»Mit wie vielen Menschen unterhältst du dich denn über ihre Schlafgewohnheiten?«
»Ich bin müde. Lass uns das Gespräch auf ein andermal verschieben.«
Er verlässt das Zimmer.
Morgen früh werde ich im Pflegeheim anrufen, mich erkundigen, wie es Mutter geht, nebenbei fragen, ob sie nach Briefpapier verlangt hat.
Ich bin hellwach, rolle mich von der einen Seite auf die andere. Irgendwo bellt ein Hund. Noch zwei, drei Nächte wie diese und ich werde nicht mehr vernünftig arbeiten können.
Um zwanzig nach fünf kommt Francesco herein, holt sich Kleidung und Schuhe aus dem Schrank. Ich stelle mich schlafend.
Er geht ins Bad, dreht die Dusche auf.
Um kurz nach sechs fällt die Wohnungstür ins Schloss. Ich stehe auf.
Er hat mir keinen Zettel geschrieben.
Ich hinterlasse drei Nachrichten auf dem Anrufbeantworter von Frau Grundmann, bei der dritten bitte ich um Rückruf. Sie meldet sich nicht.
Nachmittags um vier versuche ich es wieder. Diesmal habe ich Glück. Sie entschuldigt sich. Es habe heute mehrere Notfälle gegeben.
»Ist meiner Mutter etwa …«
»Nein, mit Ihrer Mutter ist alles in Ordnung«, unterbricht sie mich. »Ihr Besuch hat ihr Auftrieb gegeben.«
»Das freut mich.«
»Sie zeigt uns allerdings jeden Tag einen Zettel, auf dem steht
Tochter, wann?
«
Ich spüre einen Stich. »Es wird noch ein paar Wochen dauern, bis ich wieder nach Hamburg kommen kann. Ich muss sehen, wie sich die Reisen mit meiner Arbeit vereinbaren lassen.«
»Natürlich. Vielleicht rufen Sie Ihre Mutter zwischendurch mal an und erzählen ihr was. Oder schreiben Sie ihr. Lesen kann sie ja noch.«
Ich lasse mir ihre Durchwahl geben. Frau Grundmann wirkt erstaunt, dass ich sie nicht längst habe. Nach dem Briefpapier frage ich nicht.
Mutter nimmt sofort ab.
»Hier ist Judith.«
Sie seufzt.
»Frau Grundmann meinte, dass es dir ganz gutgeht.«
Schweigen.
»Ich bin wieder in Rom … Wir hatten gestern ein schlimmes Gewitter … heute ist es nicht mehr so schwül … Ich hätte nichts dagegen, wenn dieser heiße Sommer endlich vorbei wäre …«
Ist sie noch da?
»Seit meiner Rückkehr habe ich viel gearbeitet …« Ich gerate ins Stocken. »Dabei fällt mir ein … Ich habe dir gar nicht gesagt, was ich mache …«
Ein Räuspern.
»Ich bin Restauratorin. Fresken der Renaissance sind meine Spezialität …«
Sie summt.
»Im Augenblick restauriere ich eine Verkündigung von Filippino Lippi.«
Ein Singsang.
»Sie befindet sich in der Kirche Santa Maria sopra Minerva. Kennst du die?«
Ein Knurren.
»Auf dem Platz davor steht der Bernini-Elefant mit dem kleinen Obelisken auf dem Rücken.«
Sie summt.
»Ich schicke dir eine Postkarte von dem Fresko. Es ist wunderschön.«
Wieder ein Singsang.
»Mutter …« Meine Kehle ist trocken. Ich kann sie nicht bitten, verrate mich nicht.
»Ich … muss jetzt leider Schluss machen und
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