Ferne Tochter
weiterarbeiten.«
Schweigen.
»Alles Gute.«
Hat sie aufgelegt?
»Ich melde mich bald wieder.«
Ich trinke einen Schluck Wasser, gehe in die Kirche zurück und klettere auf mein Gerüst.
Mit meiner Konzentration ist es vorbei. Nach einer halben Stunde gebe ich es auf und packe meine Sachen zusammen.
Ich stehe vor den Postkarten, vergleiche die Farben. Mal sind die Flügel des Engels zu blau, mal die Haare Marias zu rot. Was ist besser, eine Abbildung der gesamten Szene oder ein Ausschnitt? Vielleicht interessiert Mutter sich mehr für Details. Aber sie soll die Dynamik zwischen den Figuren sehen. Hinter mir drängeln die Touristen. Ich entscheide mich für eine Gesamtszene und bereue es im nächsten Moment. Die Farben sind zu blass, die Vorfreude des Engels ist kaum zu erkennen. Und wenn schon. Ich werde keine perfekte Reproduktion finden, schon gar nicht auf einer Postkarte. Mutter soll eine Vorstellung von meiner Arbeit bekommen. Mehr nicht.
Draußen setze ich mich auf eine Bank. Was schreibe ich ihr? Wir könnten ein römisches Pflegeheim für dich suchen. Nein. Ich darf nichts versprechen, was ich nicht halten kann. Würde ich es ertragen, sie in meiner Nähe zu haben? Ich könnte sie alle paar Tage besuchen, am frühen Abend, auf dem Weg nach Hause.
Ich schließe die Augen, sehe Mutter vor mir, in ihrem Rollstuhl, Speichel läuft ihr aus dem Mund. Eine andere Figur schiebt sich ins Bild. Eine Frau, sie ist jung, ich kann ihr Gesicht nicht erkennen.
Ich reiße die Augen auf, greife nach meinem Stift.
Rom, 7 . September 2011
Liebe Mutter,
dies ist das Verkündigungsfresko aus der Cappella Carafa. Zurzeit arbeite ich an der Restaurierung des Engels.
Ich hoffe, dass ich Ende des Monats wieder nach Hamburg kommen kann. Aber vorher werden wir noch ein paarmal telefonieren.
Viele liebe Grüße
Judith
Es wäre gelogen,
Deine Judith
zu schreiben.
Francesco sitzt im Wohnzimmer. Er hält ein Blatt Papier in den Händen. Mein Herz klopft. Einen Umschlag sehe ich nicht.
»Hallo.« Er lächelt.
»Was ist passiert?«
»Wieso?«
»Du bist sonst nie so früh da.«
Er legt das Blatt beiseite, steht auf, nimmt mich in die Arme.
»Ich wollte hier sein, wenn du zurückkommst. Entschuldige, bitte … Ich war heute Nacht so gerädert, dass ich … nicht mehr klar denken konnte.«
»Also keine getrennten Schlafzimmer?«
»Natürlich nicht.«
Ich gebe ihm einen Kuss, werfe einen Blick auf das Blatt, sehe Adressen, Telefonnummern.
»Meine Sekretärin hat die Anschriften von ein paar Pflegeheimen in der Nähe herausgesucht.«
»Aha …«
»Soweit sie in Erfahrung bringen konnte, gibt es in keinem von ihnen Pfleger, die deutsch sprechen. Aber sie hat mit einer Agentur Kontakt aufgenommen, die uns jemanden vermitteln könnte.«
»Danke.«
»Wärst du bereit, deine Mutter zu fragen, ob sie nach Rom kommen möchte?«
»Ja.«
»Dann wird alles einfacher.«
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22.
A m nächsten Morgen erreiche ich Frau Grundmann beim ersten Versuch. Meine Pläne überraschen sie nicht.
»Fragen Sie Ihre Mutter.«
»Es ist schwierig, ihre Laute zu deuten, ohne ihr Gesicht sehen zu können.«
»Ich bin sicher, Sie werden sie verstehen.«
Frau Grundmann hat die Lage richtig eingeschätzt. Mutter lässt mich kaum ausreden. Ein schriller Ton, lang und anhaltend, sagt mir, dass sie nicht nach Rom umziehen will.
Nachmittags ruft mich Antonia Bremer an. Sie klingt erschöpft.
»Man hat mich heute gebeten, zu Ihrer Mutter zu kommen, um sie zu beruhigen. Ihr Vorschlag, sie nach Rom zu holen, hat sie ziemlich aus der Bahn geworfen.«
»Es tut mir leid … Ich habe es gut gemeint.«
»Das habe ich ihr auch gesagt. Aber sie konnte mir kaum zuhören, so aufgebracht war sie. Die Vorstellung, ihre vertraute Umgebung verlassen zu müssen, hat sie sehr verunsichert.«
»Wir würden eine Pflegerin engagieren, die deutsch spricht.«
»Das genügt offenbar nicht.«
»Nein … damit ist das Thema vom Tisch. Ich hoffe, meine Mutter fängt sich bald wieder.«
»Ich werde morgen noch mal bei ihr vorbeischauen.«
»Danke.«
Ich starre auf den rechten Daumen des Engels. Wie habe ich glauben können, Mutter würde sich mir, der verlorenen Tochter, anvertrauen, sich in meine Welt begeben, noch dazu eine fremdsprachige? Drei Besuche im Pflegeheim wiegen zwanzig Jahre Abwesenheit nicht auf. Auch nicht am Ende eines Lebens.
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23.
F rancesco kann sich nicht vorstellen, dass dies Mutters endgültige
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