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Ferne Tochter

Ferne Tochter

Titel: Ferne Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Ahrens
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älteren Paar an.
    Das geht nicht. Wir brauchen einen Tisch für uns. »Tessa, sollten wir nicht …«
    Sie sitzt bereits. Ich setze mich dazu. Sie studiert die Karte, reicht sie schweigend an mich weiter.
    »Was möchten Sie?«, frage ich.
    »Einen Milchkaffee.«
    »Etwas zu essen?«
    Sie schüttelt den Kopf.
    Ich winke die Kellnerin herbei und bestelle zwei Milchkaffee. Das Paar beobachtet uns.
    Tessa trägt schwarz, ihr Lidstrich und ihr Nagellack sind auch schwarz. Ihre Ohren und die Nase sind gepierct, die Haut am rechten Nasenflügel ist entzündet. Es muss weh tun.
    »Sie haben also nach mehr als zwei Jahren meinen Brief bekommen«, sagt sie und drückt ihre Zigarette aus.
    »Ja …«
    Sie holt ein Päckchen Tabak und Blättchen aus ihrer Kapuzenjacke und beginnt, sich eine neue Zigarette zu drehen.
    Ich werfe einen Blick auf das gebannt lauschende Paar. Es ist mir egal. »Ich habe vor zwanzig Jahren den Kontakt zu meinen Eltern abgebrochen … Sie konnten mir die Post nicht nachschicken.«
    Der Milchkaffee wird serviert.
    Tessa zündet sich ihre Zigarette an und bläst den Rauch in meine Richtung. Ich muss husten.
    »Warum sind Sie nach Hamburg zurückgekehrt?«
    Ich starre auf ihre gelben Finger und erzähle von Claudias Anruf, meinen Zweifeln, meinem Schwindel. Tessa verzieht keine Miene.
    Die Frau an unserem Tisch gibt ihrem Mann einen Stoß in die Rippen.
    »Zahlen, bitte!«, ruft er.
    Ich atme auf.
    Die Kellnerin kommt beinahe sofort. Sie notiert verschiedene Summen auf ihrem Block.
    »Sind Ihre Eltern tot?«, fragt Tessa und zieht die Jacke aus.
    Auf der rechten Schulter hat sie ein kleines Tattoo, einen schwarz-roten Schmetterling. Ihre Oberarme sind durchtrainiert.
    »Mein Vater ist tot, meine Mutter ist in einem Pflegeheim. Sie hatte einen Schlaganfall und kann nicht mehr sprechen.«
    »Einundzwanzig fünfzig«, verkündet die Kellnerin und wirft mir einen bedauernden Blick zu.
    Der Mann zieht sein Portemonnaie aus der Hosentasche.
    »Werden hier zwei Plätze frei?«, fragt eine junge Frau hinter mir.
    »Tut mir leid, wir wollen allein sein«, antworte ich.
    »Wieso das denn?«, protestiert Tessa.
    Die junge Frau geht weiter.
    »Schönen Tag noch«, wünscht uns das Paar.
    Ich beuge mich vor, versuche zu lächeln. »Erzählen Sie mir von sich: Wo leben Sie? Was …«
    »Deshalb bin ich nicht hier«, unterbricht Tessa mich. »Ich will wissen, warum Sie mich weggegeben haben.«
    Wie soll ich es ihr erklären? Sie wird mich nicht verstehen.
    »Für eine Mutter gehört einiges dazu, sich von ihrem Kind zu trennen.«
    »Ich war siebzehn, als Sie geboren wurden …« Tränen steigen mir in die Augen. »Die Beziehung zu meinen Eltern war zerrüttet, mein Vater wollte uns nicht in seinem Haus haben, meine Mutter war zu feige, um sich gegen ihn durchzusetzen …«
    »In Deutschland gibt es Unterstützung für minderjährige Mütter«, sagt Tessa und zieht an ihrer Zigarette. »Jugendämter, Mutter-Kind-Einrichtungen. Hier wird niemand gezwungen, sein Kind wegzugeben.«
    »Ich weiß … ich habe mich damals erkundigt …«
    »Also?«
    Ich putze mir die Nase. »Ich hatte nicht die Kraft, das allein durchzustehen …«
    »Kennen Sie meinen Vater?«
    »Ja, natürlich! Was glaubst du denn? Dass ich mit irgendeinem wildfremden Typen hinter einem Gebüsch verschwunden bin?«
    Tessa raucht. »Ich erinnere mich nicht, dass wir uns geduzt hätten.«
    Ich balle im Schoß die Fäuste. Nicht schreien, nicht weglaufen.
    »In meinem Geburtseintrag steht
Vater unbekannt.
«
    »Ich wollte seinen Namen nicht nennen.«
    »Warum nicht? War er verheiratet?«
    »Nein. Ihr Vater war genauso jung und unerfahren wie ich …«
    »Vielleicht hätte er mich gern behalten.«
    Ich schüttele den Kopf.
    »Waren Sie noch mit ihm zusammen, als ich geboren wurde?«
    »Nein.«
    »Wer hat Schluss gemacht?«
    »Er.« Ich trinke meinen Milchkaffee aus. »Möchten Sie noch einen?«
    »Ja.«
    »Wollen Sie jetzt was essen?«
    »Nein.«
    Ich bestelle zwei Milchkaffee und ein Stück Apfelkuchen mit Sahne.
    »Ach, ich nehme auch eins«, sagt Tessa. »Aber ohne Sahne.«
    Zum ersten Mal klingt ihre Stimme nicht feindselig.
    Ein Mann will sich an unseren Tisch setzen, er akzeptiert meinen Einwand nicht.
    »Gehen Sie woanders hin«, sage ich grob.
    »Na, hören Sie mal!«, schimpft er.
    Tessa schweigt.
    Die Kellnerin findet vermittelnde Worte. Sie hat genug von unserem Gespräch mitbekommen, um zu begreifen, dass wir kein Publikum gebrauchen

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