Ferne Tochter
sich. Sie hat begriffen, dass ich diejenige bin, die Ablenkung braucht.
Heute gebe ich nicht so schnell auf. »Guckst du dir sonntags um zwölf manchmal den Presse-Club an?«
Sie nickt und zeigt auf die Programmzeitschrift.
»Merkels meckernde Männer – Wie geht’s weiter mit Europa?«,
lese ich vor.
Ein linkes Achselzucken. Kein Interesse.
»Kann ich dich nicht doch dazu überreden, mit mir nach draußen zu gehen? Es ist warm wie im Sommer.«
Sie verzichtet auf ihren schrillen Ton, deutet mit der Hand auf den Sessel.
Ich setze mich hin, schaue auf meine Hände, erzähle ihr nichts.
Um halb eins verabschiede ich mich, verspreche, morgen, vor dem Rückflug, noch einmal vorbeizukommen. Mutter weint. Ich kann es nicht ändern.
Vater spricht nicht mehr mit mir, Mutter nur das Nötigste, über meinen gewölbten Bauch sieht sie hinweg. Bei Johannes läuft wieder nur das Band. Ich hinterlasse eine Nachricht, die neunte oder zehnte. Er ruft nicht zurück. Seine Mutter auch nicht. Ich schreibe ihm einen Brief.
Lieber Johannes, können wir nicht trotzdem weiter miteinander reden? Gruß, Judith.
Ich warte nachmittags vor seiner Schule. Er sieht mich, schlägt einen Haken, nimmt den anderen Ausgang. Ich bitte Alexander, mit ihm zu sprechen. Du bist doch sein bester Freund. Er druckst herum. Was ist?, frage ich. Johannes sagt, es ist aus zwischen euch. Ja, aber ich ertrage es nicht, dass er nicht mit mir spricht. Vergiss es, sagt er und starrt auf meinen Bauch. Der hat längst eine andere. Claudia interessiert sich plötzlich fürs Tanzen, Walzer, Foxtrott, Tango und so was. Keine Ahnung, wie sie darauf kommt. Wir haben uns immer über die Leute lustig gemacht, die zur Tanzstunde gehen. Ihre neuen Freunde tanzen auch, zwei Abende in der Woche und jedes Wochenende. Tut mir leid, ich habe keine Zeit, heißt es, wenn ich mich mit ihr verabreden will. Ich gebe es auf. Nur die Lehrer sind anders, vor allem Frau Hildebrandt, und die ist schon über sechzig. Ich dachte immer, sie will nichts von uns wissen. Sie ist so streng, wer in Kunst dreimal schwänzt, kriegt eine Sechs. Frau Hildebrandt spricht mit mir, sie hilft mir, wenn jemand über mich lästert, sie war mit mir bei der Frauenärztin und der Schwangerschaftsberatung. Neulich hat sie sogar versucht, mit Mutter ein ernstes Wort zu reden, aber das war hoffnungslos. Vater ist gar nicht erst zu dem Gespräch erschienen. Wenn du nicht mehr zu Hause wohnen willst, können wir beim Jugendamt einen Antrag auf Unterbringung in einer Wohngruppe stellen, sagt Frau Hildebrandt. Man würde sicher schnell einen Platz für dich finden. Mal sehen, antworte ich.
Ich ziehe mich zum dritten Mal um. Ist die weiße Leinenbluse weniger auffällig als das braune Seidenhemd? Die cremefarbene Hose steht mir gut, aber darum geht es nicht. Warum habe ich nicht meine alten Jeans mitgebracht und ein schlichtes T-Shirt?
Mir bricht der Schweiß aus. Ich dusche noch einmal. Zehn vor zwei. Ich habe die Große Brunnenstraße einprogrammiert, länger als eine halbe Stunde werde ich nicht brauchen.
Ich breite all meine Kleidungsstücke auf dem Bett aus, entscheide mich für die braune Leinenhose, die weiße Bluse, braune Ballerinas. Etwas Rouge, etwas Lippenstift, ein dezenter Kupferton.
Ich habe vergessen, Mittag zu essen. Jetzt ist es zu spät.
Um zwanzig vor drei parke ich in der Großen Brunnenstraße. Renovierte Altbauten mit Geschäften, Restaurants, Galerien. Hier erinnert nichts an tuberkulosekranke Arbeiter.
Im Café Katelbach ist es fast leer, draußen sind alle Tische besetzt. Soll ich warten, bis einer frei wird? Es ist zu früh. Ich möchte bei diesem Wetter nicht drinnen sitzen.
Ob Tessa hier arbeitet? Eine junge Kellnerin läuft an mir vorbei. Altersmäßig kommt es hin, aber sie hat schwarze Locken. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Tessa dunkelhaarig ist.
»Frau Velotti?«
Ich drehe mich um. Da steht sie. Grüne Augen, lange, blonde Haare, ein harter Mund. In der linken Hand hält sie eine Zigarette, die rechte hat sie in der Tasche ihrer Jeans vergraben.
»Tessa, wie hast du mich …«
»Sie sind die einzige Frau hier, die so aussieht wie ich.«
Ich schlucke. Sie ist groß, schlank, hat den gleichen hellen Teint. Ich wünschte, ich könnte sie umarmen. Stattdessen strecke ich ihr die Hand entgegen.
»Ich bin so froh, dass du … dass Sie gekommen sind.«
Sie betrachtet die Hand, ergreift sie nicht. »Setzen wir uns?«
Sie steuert einen Tisch mit einem
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