Ferne Tochter
Schule gehen? Wir parken. Die Sozialarbeiterin heißt Frau Rudolf, sie hat Zeit und Geduld. Ich lese meine Fragen vor, bekomme Broschüren mit Informationen. Als Erstes geht es um offene, teiloffene oder Inkognito-Adoptionen. Inkognito, sage ich. Haben Sie besondere Wünsche, bei was für Adoptiveltern Ihr Kind aufwachsen soll?, fragt Frau Rudolf. Ich schlucke. Sie sollen es liebhaben. Frau Hildebrandt legt mir einen Arm um die Schulter. Wir werden sicher geeignete Adoptiveltern finden, sagt Frau Rudolf. Das weitere Vorgehen sieht so aus, dass wir das Krankenhaus über die geplante Adoptionsvermittlung informieren und Sie bis zur Entbindung begleiten. Wenn Sie es wünschen, bekommen Sie von uns auch Beistand bei der Geburt. Ich schüttele den Kopf. Danach klären wir, ob Sie bei Ihrer Entscheidung bleiben wollen. Frau Rudolf sieht mich über ihre Brille hinweg an. Ich nicke. Wenn ja, werden die Adoptiveltern benachrichtigt und versorgen das Kind schon im Krankenhaus. Ich presse die Lippen zusammen. Frau Rudolf beobachtet mich genau. Sie nehmen es mit nach Hause, sobald alle medizinischen Untersuchungen abgeschlossen sind. Aber das ist noch nicht endgültig, oder?, fragt Frau Hildebrandt. Nein, die leiblichen Eltern können frühestens acht Wochen nach der Geburt vor einem Notar in die Adoption einwilligen, antwortet Frau Rudolf und wendet sich mir wieder zu. Womit ich bei der Frage nach dem Vater bin. Unbekannt, sage ich. Frau Rudolf seufzt. Denken Sie in Ruhe darüber nach, ob Sie uns den Namen des Vaters nicht doch nennen können. Viele Adoptivkinder stellen später Nachforschungen an, weil sie erfahren wollen, wer ihre leiblichen Eltern sind. Es ist wichtig für sie. Wir schweigen. Ich will Johannes da raushalten, sonst habe ich immer seinen Vater im Nacken. Sie müssen sich auch überlegen, ob Sie Ihrem Kind einen Namen geben wollen oder ob die Adoptiveltern den Namen des Kindes aussuchen sollen, sagt Frau Rudolf. Die Adoptiveltern, antworte ich, ohne zu zögern. Wissen Sie schon, ob es ein Mädchen oder ein Junge ist? Ein Mädchen, sage ich leise. Frau Hildebrandt hält mich fest im Arm. Werde ich es nach der Geburt sehen?, frage ich. Das entscheiden Sie, antwortet Frau Rudolf. Wenn Sie es nicht sehen möchten, werden Sie auf eine andere Station verlegt als Ihr Kind. Du musst dich heute noch nicht festlegen, sagt Frau Hildebrandt. Plötzlich spüre ich ein seltsames Flattern im Bauch. Das hatte ich noch nie. Alles in Ordnung?, fragt Frau Rudolf. Ja. Ich möchte das Kind nicht sehen.
»Judith?«, höre ich Francesco im Flur rufen.
Ich weine.
»Wo bist du?«
Gleich wird er hereinkommen.
»Was ist passiert?« Er beugt sich über mich und gibt mir einen Kuss. »Hast du schlechte Nachrichten von deiner Mutter?«
»Nein … Es hat nichts mit ihr zu tun … zumindest nicht direkt …«
»Das verstehe ich nicht.«
Ich richte mich auf, putze mir die Nase. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll …«
»Irgendwo … So schwer kann es doch nicht sein.«
»Es ist schwer … und es ist schlimm …«
Ich sehe das Erschrecken in seinen Augen. »Bist du krank?«
»Nein.«
»… Hast du dich in jemand anderen verliebt?«
Ich schüttele den Kopf.
»Irgendetwas beschäftigt dich. Das habe ich bei unseren Telefonaten gemerkt.«
»… Ich habe eine Tochter …«
»Was?«
Francesco fasst sich ans rechte Ohr, als hätte er nicht richtig gehört.
»Sie ist zwanzig Jahre alt. Ich bin ihr gestern zum ersten Mal begegnet.«
»Moment …« Francesco fährt sich mit den Fingern durch seine Haare und beginnt, im Zimmer auf und ab zu gehen. »Wie kann es sein, dass wir seit … siebzehn Jahren zusammen sind und du mir nie …«
»Ich habe sie nach ihrer Geburt zur Adoption freigegeben«, unterbreche ich ihn. »Als ich neulich das erste Mal wieder in Hamburg war, habe ich im Haus meiner Mutter einen Brief von ihr gefunden, den sie im Sommer 2009 geschrieben hatte und der an mich gerichtet war.«
»Deshalb hast du Deutschland verlassen … nicht weil dein Vater dich geschlagen hat und deine Mutter ständig betrunken war … Das hast du alles erfunden!«
»Sie waren auf andere Weise grausam zu mir, haben mir nie Wärme und Geborgenheit gegeben. Als ich mit sechzehn schwanger wurde, lautete der einzige Kommentar meines Vaters: ›Wenn du das Kind abtreiben lässt, bist du nicht mehr meine Tochter.‹ Ich wusste nicht, was ich machen sollte, ich hatte ein schlechtes Gewissen und Angst vor einer Abtreibung.
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