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Ferne Tochter

Ferne Tochter

Titel: Ferne Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Ahrens
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drei Monaten gibt es oft spontane Abbrüche, sagt sie und lächelt. Bei mir offenbar nicht, entgegne ich. Du könntest es so darstellen, sagt sie und lächelt immer noch. Wie meinst du das?, frage ich und richte mich auf. Du lässt es wegmachen, und wir erzählen Vater, dass du eine Fehlgeburt hattest.
     
    Mit zitternder Hand reicht Mutter mir den Block.
     
    LIEBE JUDITH,
    ES TUT MIR SO LEID!
    DEINE MUTTER
     
    Was genau?, denke ich. Dass du dich Vater gegenüber nicht durchsetzen konntest? Dass du mir heimlich zu der Abtreibung geraten hast? Dass du mich all die Monate alleingelassen hast, weil du es nicht ertragen konntest, dass ich schwanger war und du nicht?
    Ich nicke.
     
    Es ist warm. Die Strandcafés an der Elbe haben Hochbetrieb.
    Ich laufe von Teufelsbrück bis Blankenese, suche die Weide, unter der ich damals gesessen habe. Feiner, weicher Sand. Ein nebliger Novembertag. Nicht mal der Fluss war zu sehen.
    Ich kehre um, entdecke die Weide. Sie ist gewachsen. Ich setze mich in den Sand, lehne den Rücken gegen den Stamm, schließe die Augen.
     
    Ich habe ein schlechtes Gewissen, habe Angst vor der Abtreibung, bin wütend auf Mutter, so wütend. Ich will frei sein, will kein Baby im Bauch, keine Verantwortung für ein Kind. Ich bin erst sechzehn, habe das Leben noch vor mir. Zumindest behaupten das alle. Bei der Beratung haben sie gesagt, lassen Sie sich von niemandem unter Druck setzen, nicht von Ihren Eltern, nicht von Ihrem Freund, nicht von seinen Eltern. Es ist allein Ihre Entscheidung. Wie kann ich so etwas entscheiden? Abtreibung bedeutet Mord, sagt Vater. Mutter hat ihm nie widersprochen. Aber ihr Neid auf meinen Bauch hat alles verändert. Jetzt sieht sie die Dinge nicht mehr so eng, kann sogar scheinheilig lächeln. Trotz steigt in mir hoch. Und wenn ich das Kind nicht abtreibe?
     
    Ich gebe Tessas Nummer ein. Sie nimmt sofort ab.
    »Hallo?« Ihre Stimme ist rauh.
    »Hier ist Judith …«
    »Judith … Wolf?«
    »Inzwischen heiße ich Judith Velotti …«
    »Aha.«
    Ich höre Musik im Hintergrund. Jemand verlangt nach einem Bier.
    »Ich habe Ihren Brief im Haus meiner Mutter gefunden. Es tut mir leid, dass ich …«
    »Ist schon eine Weile her, dass ich den geschrieben habe«, unterbricht sie mich. »Hatte nicht mehr mit Ihnen gerechnet.«
    »Ich lebe seit zwanzig Jahren im Ausland … bin neulich zum ersten Mal wieder nach Deutschland gekommen.«
    »Hat mein Vater Ihnen meine Nummer gegeben?«
    »Ja, ich war gestern in der Rombergstraße.«
    »Hat er mir gar nicht gesagt.«
    Eine Tür fällt zu. Jetzt höre ich Autogeräusche, ein Martinshorn.
    »Sind Sie noch da?«
    »Ja … ich bin nach draußen gegangen, um eine zu rauchen.«
    »Können wir uns irgendwo treffen?«
    »Heute nicht. Meine Schicht in der Kneipe fängt gleich an. Morgen vielleicht …«
    »Um wie viel Uhr?«
    »Gegen drei. Kennen Sie das Café Katelbach in Ottensen?«
    »Nein, aber das finde ich.«
    »Große Brunnenstraße.«
    »Gut.«
    »Ich muss jetzt Schluss machen.«
    »Bis morgen.«
    Ein Containerschiff fährt vorbei. Ich bin nass geschwitzt.
    Lebt Tessa in Ottensen? Da kenne ich mich nicht aus.
    Es gibt einen anderen Namen für dieses Viertel hinter dem Altonaer Bahnhof. Mutter rümpfte darüber die Nase. Mottenburg. Weil dort früher tuberkulosekranke Arbeiter wohnten.
     
    Johannes läuft aus dem Wohnzimmer, schlägt die Tür hinter sich zu. Seine Eltern sitzen mir gegenüber, die Mutter ringt die Hände, der Vater verschränkt die Arme, ihre Gesichter sind starr. Du warst dir doch sicher, dass eine Abtreibung die richtige Entscheidung ist!, seufzt die Mutter. Ich habe meine Meinung geändert, sage ich. Und wie soll es jetzt weitergehen? Werden deine Eltern das Kind aufziehen? Nein, das werden sie nicht, antworte ich. Damit eins klar ist, sagt der Vater und deutet mit seinem Zeigefinger auf mich, du wirst unseren Sohn nicht dazu zwingen, mit siebzehn eine Vaterrolle zu übernehmen. Das habe ich auch nicht vor, sage ich. Johannes ist mit seinen Nerven am Ende, sagt die Mutter, dabei müsste er sich dringend auf die Schule konzentrieren. Und was ist mit meinen Nerven?, frage ich. Noch ist Zeit, sagt die Mutter. Wenn du erst mal im vierten Monat bist, ist es für eine Abtreibung zu spät, oder es wird zumindest komplizierter. Ich werde das Kind bekommen, sage ich. Das ist wahnsinnig!, stöhnt der Vater. Wovon wirst du denn leben? Willst du in ein Mutter-Kind-Heim ziehen und dir von uns Unterhalt zahlen lassen? Ich

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