Ferne Tochter
ähnlich?«
Ich nicke.
»Ich würde sie gern kennenlernen.«
»Das wird nicht passieren. Sie wollte nicht mal meine Adresse haben.«
»Du könntest Harald Jansen bitten, einen Brief an sie weiterzuleiten. Dann hat sie deine Adresse.«
»Und was soll ich ihr schreiben? ›Liebe Tessa, ich möchte Sie nicht wieder verlieren‹ …«
»Ihr siezt euch?«
»Sie hat darauf bestanden.«
Ich habe Selina unterschätzt. Beim Abschied versichert sie mir, dass sie immer für mich da sei.
Ich gehe nach draußen auf die Terrasse. In der Ferne leuchten die Lichter der Dörfer in den Albaner Bergen. In diesem Herbst werden Francesco und ich dort keinen neuen Wein probieren.
Ich denke wieder an Selinas Frage. Gab es jemals einen Moment?
Es ist kurz nach Mitternacht. Wir verlassen das Caffè della Pace, gehen in Richtung Corso Vittorio Emanuele II . Wo wohnen Sie?, fragt Francesco Velotti. In der Via Perugia. Wo liegt die? Im Osten, antworte ich, in Prenestino. Den Stadtteil kenne ich kaum. Das wundert mich nicht, sage ich, es ist keine schöne Gegend. Wir gehen schweigend weiter. An der Haltestelle bleibe ich stehen. Der Nachtbus wird gleich kommen. Darf ich Sie nach Hause fahren?, fragt Francesco Velotti. Das ist nicht nötig. Doch, sagt er und lächelt. Ich habe keine Ahnung, wo er wohnt. Wenn ich den Bus nehme, sehe ich ihn vielleicht nie wieder. Soll ich ihm sagen, dass er nicht weiß, worauf er sich einlässt? Dass ich eine Vorgeschichte habe, die hier niemand kennt? Der Bus kommt näher. Er hält. Ich steige nicht ein. Ich sage nichts.
[home]
30.
I ch sitze auf dem Sofa im Wohnzimmer, schlafe immer wieder ein. Gleich Viertel vor elf. Ich will wach sein, wenn Francesco nach Hause kommt.
Eine halbe Stunde später wird die Tür aufgeschlossen.
Ich stehe auf, trete in den Flur. »Guten Abend.«
Er sieht mich nicht an, geht an mir vorbei ins Schlafzimmer.
»Können wir nicht wenigstens …«
»Hast du meine SMS nicht bekommen?«, unterbricht er mich und öffnet die Schranktüren.
Im Laufschritt trägt er Hemden, Anzüge, Krawatten, Unterwäsche, Socken und Schuhe ins Gästezimmer, leert seine Fächer im Badezimmer und richtet sich im Gästebad ein.
Ich höre, wie er seine Zähne putzt, sich in der Küche ein Glas Wasser einschenkt, die Tür des Gästezimmers hinter sich abschließt. Befürchtet er, ich könnte ihn bestehlen oder ihm etwas antun?
Gegen Morgen schlafe ich ein. Als ich um sieben Uhr aufwache, ist Francesco nicht mehr da. Den Schlüssel zum Gästezimmer hat er mitgenommen.
Wir haben gemeinsame Konten. Kann er sie ohne meine Zustimmung sperren lassen? Mir bricht der Schweiß aus. Ich suche nach den Unterlagen, finde sie nicht.
Wie können wir nach siebzehn Jahren plötzlich zu Feinden werden?
REDE MIT MIR
!!!,
schreibe ich in roten Buchstaben auf einen großen Zettel und klebe ihn an die Tür des Gästezimmers.
Ich stehe auf meinem Gerüst und betrachte die Blautöne des Faltenwurfs.
Mein telefonino klingelt. Vielleicht ist es Francesco.
Nein, sein Vater. Wenn er mich beschimpft, lege ich auf.
»Pronto?«
»Judith, bist du’s?«
»Ja.«
»Ich möchte dich für heute Abend zu mir zum Essen einladen.«
»… Oh, ich …«
»Bei euch ist ja einiges passiert, und da dachte ich mir, es wäre gut, wenn wir mal in Ruhe über alles reden könnten.«
»Ja … ich komme gern.«
»Chiara wird uns etwas Leckeres kochen. Passt es dir gegen sieben?«
»Danke, Vincenzo.« Ich lege auf und frage mich, ob er Francesco auch eingeladen hat.
Es regnet. Die Straßenbahnen werden überfüllt sein, trotzdem nehme ich kein Taxi.
An der Piazza Albania hat es einen Unfall gegeben. Zwei Lkw haben sich ineinander verkeilt. Die Carabinieri sind damit beschäftigt, das Gebiet abzusperren und die Schaulustigen zu vertreiben.
Ein Notarztwagen biegt um die Ecke.
Ein Stück weiter entfernt liegt ein dunkelblauer BMW , er hat sich überschlagen. Mir stockt der Atem.
Ich will auf den Wagen zulaufen, da packt mich jemand am Arm.
»Hier ist der Zutritt verboten!«
»Lassen Sie mich durch! Bitte! Es könnte sein, dass mein Mann …«
»Nein!«
Ich rufe Francesco an, spreche auf seine Mailbox. Wenn er nicht antwortet …
Zwei Minuten später schickt er mir eine SMS .
Bin im Büro.
Langsam gehe ich den Aventin hinauf und stelle mir vor, wie ich die Nachricht von Francescos Tod aufgenommen hätte. Etwas in mir wäre zerbrochen. Aber noch schlimmer wären die Schuldgefühle. Für den
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