Ferne Tochter
Ich hätte Hilfe gebraucht.«
Francesco bleibt am Fenster stehen und sieht hinaus, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Steht er so da, wenn seine Klienten ihm ihre Fälle schildern?
»Meine Mutter hat immer vor ihrem Mann gekuscht. Sie wünschte sich seit Jahren ein zweites Kind und konnte es nicht ertragen, dass ich schwanger war. Eines Tages hat sie mir vorgeschlagen, das Kind abtreiben zu lassen und meinem Vater zu erzählen, es sei eine Fehlgeburt gewesen. Ihre Scheinheiligkeit hat mich so wütend gemacht, dass ich aus Trotz beschlossen habe, das Kind auszutragen. Dabei war ich inzwischen so weit, dass ich einer Abtreibung zugestimmt hatte.« Ich spreche immer schneller, um es hinter mich zu bringen. »Die Mutter meines Freundes hatte den Termin schon vereinbart. Es gab einen Eklat, alle wandten sich von mir ab, bis auf meine Kunstlehrerin. Ohne sie hätte ich die Zeit nicht durchgestanden.«
Francesco rührt sich nicht.
»Es tut mir unendlich leid, dass ich dich belogen habe.«
Ich fühle mich leer, habe kaum die Kraft aufzustehen.
Warum sagt er nichts?
Ich gehe ins Badezimmer, betrachte mich im Spiegel. Mein verweintes Gesicht hat etwas Ungeschütztes.
Seltsam, Tessa hat nicht nur die gleichen Augen, auch den gleichen Haaransatz.
Ich lasse kaltes Wasser über meine Handgelenke laufen. Bin ich erleichtert? Ich weiß es nicht.
Nach ein paar Minuten kehre ich ins Schlafzimmer zurück. Francesco steht noch an derselben Stelle. Sein gerader Rücken strahlt Kälte aus. Ich setze mich in den Sessel und warte.
»Was ich nicht verstehe … Du bist so oft untersucht worden. Die Ärzte müssen doch gemerkt haben, dass du schon ein Kind geboren hast.«
»Ja … ich habe sie gebeten, es dir nicht zu erzählen.«
Er dreht sich um. »Das ist unglaublich! Du hast mich jahrelang zum Narren gehalten.«
»Nein! Ich habe immer gehofft, dass ich irgendwann schwanger werden würde.«
»Gehofft! Gehofft! Begreifst du nicht, worum es hier geht? Du hast Hormone geschluckt, anstatt dich mit deinen Schuldgefühlen auseinanderzusetzen.«
»Was hätte ich denn tun sollen?«, bricht es aus mir heraus. »Als ich merkte, dass ich nicht schwanger wurde, kannten wir uns schon fünf Jahre. Hätte ich sagen sollen, ach, übrigens, ich habe vergessen zu erwähnen, dass ich mit siebzehn eine Tochter zur Welt gebracht habe?«
»Du hättest es mir natürlich gleich am Anfang sagen müssen.«
»Auf die Gefahr hin, dass du dann kein Interesse mehr an einer Beziehung hast? Ich hatte mich in dich verliebt!«
»Und ich mich in dich! Daran hätte sich nichts geändert.«
»Das sagst du so leicht. Ich habe sofort gespürt, was für strenge Moralvorstellungen in deiner Familie herrschen.«
»Ich bin nicht mein Vater.«
»Das habe ich nicht behauptet.«
»Du hast mich betrogen.«
»Verzeih mir … bitte …«
»Das kann ich nicht. Für mich ist dieser Vertrauensbruch schlimmer, als wenn du eine Affäre gehabt hättest. Du weißt, wie sehr ich mir ein Kind wünsche.«
»Aber ich doch auch!«
»Du hast immerhin eins.«
»Nein, Tessa hasst mich. Sie will keinen weiteren Kontakt.«
»Judith, ich ertrage es nicht.«
Ich habe es geahnt, habe es immer geahnt.
»Wäre ich bloß nie nach Hamburg zurückgekehrt … Du hast mich dazu gedrängt …«
»Weißt du eigentlich, was du da sagst? Wenn du nicht zurückgekehrt wärst, hätte ich die Wahrheit nie erfahren. Wünschst du dir im Ernst, du könntest mich weiter belügen?«
»So meine ich das nicht … Du drehst mir das Wort im Munde um.«
»Wie konnte ich mich so in dir täuschen!«
»Allmählich reicht’s mir!«, schreie ich. »Ich habe einen schlimmen Fehler gemacht, aber das heißt nicht, dass ich ein schlechter Mensch bin.«
»Unsere Wertmaßstäbe sind offenbar nicht dieselben«, sagt Francesco eisig. »Ich werde woanders übernachten.«
Ich sitze auf der Terrasse, es weht ein kühler Wind, ich knöpfe meine Jacke zu.
Der Jasmin duftet nur noch schwach, er ist fast verblüht. Fünf Wochen ist es her, dass ich hier gesessen und dem Gecko zugesehen habe, wie er einen Falter verschlang. Es war der Tag, an dem Claudia angerufen hat.
Vor einer halben Stunde ist Francesco gegangen, ohne ein weiteres Wort.
Er braucht Zeit, würde Mutter vermutlich schreiben. Ich fürchte, ich weiß es besser.
[home]
29.
D as Gerüst scheint zu schwanken. Oder bin ich es, die schwankt? Ich habe nicht geschlafen, nichts gegessen, nichts von Francesco gehört.
Heute muss ich
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