Ferne Tochter
Rest meines Lebens hätte ich geglaubt, er sei ins Schleudern geraten, weil er sich nicht konzentrieren konnte, weil er an mich und meine Tochter gedacht hat.
Vincenzos Villa ist hell erleuchtet. Ich will gerade klingeln, als das Tor geöffnet wird.
»Guten Abend, Judith.«
Vor mir steht Giovanna in einem schwarzen Kaschmir-Cape. Ihr Goldschmuck funkelt.
»’n Abend.«
»Ich hätte nicht erwartet, dich hier zu sehen«, sagt sie und mustert mich von oben bis unten.
»Dein Vater hat mich zum Essen eingeladen«, erkläre ich überflüssigerweise.
»Man hört ja außerordentliche Dinge aus deinem früheren Leben.«
»Würdest du mich bitte vorbeilassen.« Meine Stimme bebt.
»Natürlich.«
Sie tritt einen Schritt zurück. »Francesco ist am Montagabend zu uns gekommen. Er war außer sich. Wie konntest du ihn all die Jahre belügen?«
»Ich möchte deinen Vater nicht warten lassen«, sage ich und gehe die Treppe hinauf.
»Das verzeiht er dir nie!«, ruft sie mir nach.
Meine Kehle brennt.
Chiara öffnet mir die Tür und begrüßt mich lächelnd. Sie nimmt mir meine Jacke und meinen Schirm ab. Drückt mir kurz die Hand.
»Danke«, sage ich leise.
Vincenzo steht, auf einen Stock gestützt, im Wohnzimmer. »Judith, komm her …« Er nimmt mich in die Arme.
Ich schlucke meine Tränen hinunter.
»Wollen wir uns setzen?«
Im Kamin prasselt ein Holzfeuer. Chiara bringt uns Sherry und Oliven.
»Ich habe gesehen, dass du Giovanna vor dem Haus begegnet bist. Lass dich von ihr nicht in die Mangel nehmen.«
»Dies ist eine willkommene Gelegenheit für sie. Giovanna hat von Anfang an Vorbehalte mir gegenüber gehabt.«
»Sie erträgt es nicht, dass meine Schwiegertochter eine Freundin der Kunst ist«, sagt Vincenzo und hebt sein Glas. »Auf dein Wohl.«
»Und auf deins.«
»Deins ist erst mal wichtiger.«
Er nimmt einen Schluck und schaut mich an. Ich sehe den Ernst in seinen Augen.
»Wie kann mein Sohn so reagieren? Das begreife ich nicht.«
»Du weißt, dass wir uns seit Jahren ein Kind wünschen.«
»Ja …«
»Francesco glaubt vermutlich, dass es längst geklappt hätte, wenn ich offen mit ihm gewesen wäre.«
»Das ist pure Spekulation. Deshalb setzt man doch nicht seine Ehe aufs Spiel! Ihr liebt euch. Ich kenne kaum ein Paar, das so gut zusammenpasst wie ihr beide.«
»Er fühlt sich von mir hintergangen. Ich weiß nicht, wie ich das wiedergutmachen kann.«
Vincenzo seufzt. »Ich habe gestern Abend versucht, ihm ins Gewissen zu reden, aber er ist völlig verbohrt. Schließlich ist er gegangen, ohne sich von mir zu verabschieden.«
Ich blicke ins Feuer.
»Wenn seine Mutter noch leben würde … Sie hatte immer einen guten Einfluss auf ihn.«
»Was würdest du an meiner Stelle tun?« Die Frage rutscht mir heraus, ohne dass ich darüber nachgedacht habe.
Vincenzo lächelt. »Ich würde meine Tochter einladen, mich in Rom zu besuchen.«
»Francesco könnte ihren Anblick nicht ertragen.«
»Da bin ich mir nicht so sicher. Sieht sie dir ähnlich?«
Ich nicke.
»Dann würde vielleicht etwas in ihm in Bewegung geraten. Du hast in deinen jungen Jahren schon so viel mitgemacht. Das kann ihn doch nicht kaltlassen.«
»Ich weiß nicht …«
»Er muss aufhören, nur an sich zu denken.«
Unsere Wertmaßstäbe sind offenbar nicht dieselben. Francescos Satz geht mir nicht aus dem Kopf.
»Und deine Eltern haben dir nicht beigestanden?«
»Nein.«
»Jetzt verstehe ich viel besser, warum du zwanzig Jahre lang nichts von ihnen wissen wolltest.«
Chiara betritt das Wohnzimmer. »Darf ich die Vorspeise servieren?«
»Gern.«
Wir stehen auf und gehen ins Esszimmer hinüber. Sie hat den Tisch festlich gedeckt, beinahe wie an Weihnachten.
»Hast du Hunger?«, fragt Vincenzo.
»Ja, zum ersten Mal seit Tagen.«
Es gibt Minestrone, gefolgt von Goldbrasse mit Broccoli und zum Nachtisch Zabaione. Dazu trinken wir einen Vermentino aus Vincenzos sardischem Weingut.
Heute Abend kann mir auch der Gedanke an Sardinien nichts anhaben.
Ein Taxi bringt mich nach Hause. In der Wohnung ist es dunkel. Ich schalte das Licht ein. An der Tür des Gästezimmers kleben die Ecken meines Zettels.
[home]
31.
M orgens um sieben verlässt Francesco die Wohnung, abends kommt er nie vor elf Uhr zurück. Wenn wir uns im Flur begegnen, schaut er weg.
»Das ist doch kein Leben«, sagt Selina am Telefon. »Wie lange willst du das noch ertragen?«
»Was soll ich denn machen? Ausziehen?«
»Zur Not auch das, zumindest
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