Ferne Tochter
dachte mir, dass Sie in der Zwischenzeit vielleicht … Nein, würde sie mich unterbrechen, ich habe genug gehört. Aber ich nicht, ich weiß nichts von Ihnen! Können Sie mir nicht wenigstens ein paar Fragen … Nein! Wie leben Sie? Wofür interessieren Sie sich? Was wollen Sie beruflich mal machen? Spätestens jetzt würde sie auflegen.
Ich bin erschöpft, so erschöpft. Ich höre ihren Schrei. Sie haben es geschafft, verkündet der Arzt. Wo ist sie? Ist die Nabelschnur schon durchtrennt? Ich versuche, mich aufzurichten, sehe ihren kleinen Kopf. Im nächsten Moment greifen zwei Hände nach ihr. Ich sinke zurück aufs Kissen. Sie haben unterschrieben, dass Sie das Kind nicht sehen möchten, sagt eine Schwester. Ich schließe die Augen.
[home]
33.
I ch sitze bei Frau Hildebrandt im Wohnzimmer. Hinter ihr tickt eine Standuhr. Gleich sechs. In achtzehn, neunzehn Stunden ist es so weit. Wann hast du den Notartermin?, fragt sie und schenkt mir Tee ein. Morgen um elf, antworte ich und denke an meinen gepackten Rucksack. Frau Hildebrandt gibt mir ein Stück Apfelkuchen. Möchtest du Sahne? Nein, danke. Bist du dir sicher, dass es die richtige Entscheidung ist? Ja, ganz sicher. Wenn du einmal unterschrieben hast, dass du deine Tochter zur Adoption freigibst, ist es endgültig. Ich weiß. Wir essen schweigend unseren Kuchen. Und wie soll es dann weitergehen?, fragt Frau Hildebrandt. Wirst du zu Hause wohnen bleiben? Erst mal ja, antworte ich, ohne sie anzusehen. Sprichst du mit deinen Eltern? Kaum. Und wie hältst du das aus, nach allem, was passiert ist? Ich schaue auf meine Hände und sage nichts. Judith, wir Lehrer machen uns Sorgen um dich. Du hast eine schlimme Zeit hinter dir. Bis zur Geburt hast du alles erstaunlich gut durchgestanden, aber seit Beginn des neuen Schuljahres wirkst du abwesend, machst kaum noch mit. Ich kann mich so schlecht konzentrieren. Das ist ja kein Wunder, sagt Frau Hildebrandt. Du hast den Boden unter den Füßen verloren. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass du es schaffen wirst. Du bist begabt, dir stehen viele Wege offen. Soll ich sie in meinen Plan einweihen? Sie hat mir so geholfen. Es ist nicht fair, sie zu belügen. Ich fände es gut, wenn du etwas Unterstützung hättest, höre ich Frau Hildebrandt sagen. Wie meinen Sie das?, frage ich alarmiert. Wenn du dich zum Beispiel mit einer Psychologin unterhalten könntest. Das brauche ich nicht, ich bin nicht verrückt. Nein, aber labil. Eine Expertin könnte dir helfen, die Erfahrungen der letzten Wochen und Monate zu verdauen. Glauben Sie, dass ich mich mit einer wildfremden Person darüber unterhalten würde? Frau Hildebrandt greift nach meiner Hand. Ja, das glaube ich. Und ich kann mir vorstellen, dass du im Rahmen solcher Gespräche auch deine Wohnsituation überdenken wirst. Ich muss nichts überdenken, sage ich und ziehe meine Hand weg. Frau Hildebrandt schenkt mir Tee nach. All das würde dazu beitragen, dir neue Stabilität zu geben, bevor du auf das Abitur zusteuerst. Dazu wird es nicht kommen, sage ich. Frau Hildebrandt lässt beinahe die Kanne fallen. Wieso nicht? Weil ich beschlossen habe, wegzugehen. Judith, bitte nicht! Das wäre ein großer Fehler! Woher wollen Sie das wissen?, frage ich. Weil ich älter bin als du und mehr Erfahrung habe. Du würdest einen solchen Schritt irgendwann bereuen, vielleicht nicht in einer Woche oder einem Monat, aber in ein, zwei Jahren. Das Leben ist härter ohne Abitur. Es gibt eine Menge Leute, die es auch ohne Abitur zu etwas gebracht haben, entgegne ich und stehe auf. Das mag sein, sagt Frau Hildebrandt und steht ebenfalls auf. Aber es ist ein viel schwierigerer Weg. So etwas ist doch nicht nötig. Alles ist besser, als hier zu bleiben!, schreie ich, bei diesen Eltern, auf dieser Schule, in dieser Stadt! Ich habe es so satt! Ich laufe zur Tür, Frau Hildebrandt kommt hinter mir her. Ich verstehe dich, Judith. Deshalb habe ich vorgeschlagen, dass wir dir professionelle Hilfe besorgen. Mischen Sie sich nicht ein!, schreie ich. Es ist mein Leben, meins ganz allein!
Ich wache auf. Mir ist heiß. Viertel nach vier.
Was für ein seltsamer Traum. Als hätte ich meine letzte Begegnung mit Frau Hildebrandt gefilmt, jenen Nachmittag im August 1991 . Der Tee, der Apfelkuchen, das Angebot, eine Psychologin aufzusuchen.
Nur zu der Auseinandersetzung zwischen uns ist es nicht gekommen. Meine Antworten blieben vage, ich versprach, über die Möglichkeit einer Therapie nachzudenken, dankte ihr
Weitere Kostenlose Bücher