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Ferne Tochter

Ferne Tochter

Titel: Ferne Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Ahrens
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vorübergehend. Bei uns bist du immer willkommen.«
    »Selina, das ist nicht dein Ernst …«
    »Und ob! Mir ist es unbegreiflich, wie Francesco jegliches Gespräch verweigern kann.«
    »Ich stehe mit dem Rücken an der Wand.«
    »Das ist eine denkbar schlechte Position. Geh in die Offensive!«
    »Aber wie?«
    »Das habe ich dir neulich schon gesagt: Schreib deiner Tochter.«
     
    Alle paar Tage mache ich den Versuch, einen Brief an Tessa zu entwerfen. Ich komme über die Anrede und ein oder zwei Sätze nie hinaus.
     
    Liebe Tessa,
    es war die schwerste Entscheidung meines Lebens, Sie zur Adoption freizugeben …
    Liebe Tessa,
    es tut mir leid, wenn Sie neulich den Eindruck gewonnen haben, ich hätte Sie lieber nicht zur Welt gebracht …
    Liebe Tessa,
    am Ende unseres Treffens sagten Sie, Sie hätten genug gehört. Aber ich nicht, ich habe gar nichts von Ihnen gehört!
     
    Ich arbeite wie besessen von morgens bis abends. Das habe ich schon immer gut gekonnt: arbeiten, um zu vergessen. Je genauer ich mit meiner Lupe die Farbschattierungen analysiere, um so eher kann ich über das Gesicht, die Hände, den Bauch Marias hinwegsehen. Quadratzentimeter für Quadratzentimeter reinige ich eine Figur auf einem Fresko, das über fünfhundert Jahre alt ist. Nicht mehr und nicht weniger.
     
    Einmal in der Woche schicke ich Mutter eine Postkarte. Vom Engel, von Maria, vom Bernini-Elefanten. Am Telefon erzähle ich ihr von meinem mikroskopischen Ansatz, von Problemen, die sich auftun, von Lösungen, die ich finde. Ich erwähne sogar den rechten Daumen des Engels. Mutter brummt und knurrt zwischendurch, sie will etwas anderes von mir hören, aber etwas anderes habe ich ihr nicht zu sagen.
    Für den 28 . Oktober buche ich einen Flug nach Hamburg.
    »In einer Woche besuche ich dich wieder«, sage ich zu Mutter am Telefon.
    Sie summt.
     
    Drei Tage später meldet sich Tanja Schmidt. Meiner Mutter gehe es nicht gut. Sie liege seit vorgestern mit einem fiebrigen Infekt im Bett. Frau Grundmann habe gemeint, es sei besser, mich zu benachrichtigen.
    »War ein Arzt da?«
    »Ja, er hat ihr ein Antibiotikum verschrieben.«
    »Ich hatte vor, am nächsten Freitag nach Hamburg zu kommen.«
    »Aha.«
    »Fänden Sie es besser, ich würde schon morgen fliegen?«
    »Das müssen Sie entscheiden.«
     
    Nachmittags bitte ich Antonia Bremer, Mutter zu besuchen und mir abends zu berichten, welchen Eindruck sie von ihr hat.
    »Sie ist sehr müde. Vielleicht liegt es an dem Medikament.«
    »Hat sie etwas aufgeschrieben?«
    »Nein, das würde sie im Moment nicht schaffen.«
    »Gab es so eine Situation schon mal, seitdem sie im Pflegeheim liegt?«
    »Nicht, dass ich wüsste.«
    »Ich bin unsicher, was ich jetzt machen soll … Mein nächster Flug nach Hamburg ist für Freitag gebucht. Das sind noch vier Tage …«
    »Für den Fall, dass Ihre Mutter eine Lungenentzündung bekommt, kann es schnell mit ihr bergab gehen.«
    »Ja …«
    »Wäre es schlimm für Sie, wenn Sie sich nicht von ihr verabschieden könnten?«
    »Ich weiß nicht …«
    Ich buche keinen neuen Flug.
     
    Seit wie vielen Tagen habe ich Francesco nicht gesehen und nicht gehört? Ich erinnere mich nicht. Das Gästezimmer ist weiterhin abgeschlossen. Vielleicht wohnt er längst bei Giovanna.
    Ich rufe Vincenzo an, um ihn zu fragen, ob er etwas Näheres weiß.
    »Francesco ist in New York.«
    »Ach …«
    »Dass er dich nicht einmal informiert, wenn er verreist!«
    »Hat er beruflich dort zu tun?«
    »Ja, es geht um einen wichtigen Fall.«
    »Wann kommt er zurück?«
    »Hat er mir nicht gesagt.«
    »Ich fliege am Freitag nach Hamburg.«
    »Um deine Tochter zu sehen?«
    »Um meine Mutter zu besuchen. Es geht ihr nicht gut.«
    »Oh … ich werde an dich denken.«
    »Danke.«
    »Wenn du wieder da bist, musst du dir meine neue Errungenschaft ansehen.«
    »Ein Bild?«
    »Eine Skulptur … sehr schön.«
    »Von wem?«
    »Das verrate ich nicht.«
    »Da bin ich gespannt.«
    Wir schweigen.
    »Hast du Francesco in letzter Zeit getroffen?«, frage ich schließlich.
    »Wir waren neulich sonntags alle bei Giovanna zum Mittagessen.«
    »Ah, ja.«
    »Wobei, was heißt hier, alle? Du warst nicht dabei und Annamaria auch nicht.« Vincenzo seufzt. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich auf meine alten Tage noch erleben muss, wie meine Söhne ihre Ehen zerstören.«

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    32.
    W ir fliegen über die Außenalster. Ich denke an meinen Flug vor vier Wochen, als ich mir vorgestellt habe, ich würde

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