Ferne Tochter
seit Jahren ein Kind …«
Während ich rede, frage ich mich immer wieder, wie es möglich ist, dass ich einem fast fremden Menschen so viel anvertraue.
Um sechs verlassen wir das Café.
»Ich danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«
»Es war mir wichtig zu erfahren, wer Sie sind. Und Tessa wird es auch eines Tages wissen wollen.«
»Wer weiß …«
Wir verabschieden uns.
Ich sehe ihm nach, wie er mit schnellen Schritten in eine Seitenstraße abbiegt.
[home]
36.
B ei Rührei und Toast male ich mir aus, wie Tessa mit Harald Jansen und den Zwillingen frühstückt. Es gibt frisch gepressten Orangensaft, Müsli, Joghurt, Obst. Die Zwillinge erzählen begeistert vom Geburtstagsfest, Tessa ist wortkarg. Harald Jansen erkundigt sich nach ihrem Job, vielleicht auch nach ihrer Wohngemeinschaft, ihrem Freund, ihrem Studium. Allmählich wird sie gesprächiger, die Nacht war kurz, sie hat bis fünf Uhr getanzt. Nach dem Frühstück möchte Tessa rauchen, das ist in der Wohnung verboten. Sie nimmt ihren Becher mit Kaffee und geht auf den Balkon. Die Zwillinge verschwinden in ihrem Zimmer, um zu spielen. Harald Jansen überlegt, ob dies ein guter Moment ist. Er folgt Tessa und gibt ihr meinen Brief. Der ist für dich. Sie runzelt die Stirn, liest den Absender, starrt ihren Vater böse an. Wo hast du den her? Ich habe Judith Velotti gestern getroffen, antwortet er. Wir hatten vereinbart, dass du nicht mit ihr über mich sprichst. Habe ich auch nicht. Und warum triffst du dich mit ihr? Sie hat mich angerufen und gefragt, ob ich einen Brief an dich weiterleiten würde. Dafür hättest du sie nicht treffen müssen. Das stimmt, sagt er. Aber ich war neugierig und dachte, vielleicht erzählt sie mir etwas über sich. Tessa steckt den Brief in ihre Hosentasche, ohne ihn zu öffnen. Und? Hat sie dir was über sich erzählt? Ja, antwortet er. Tessa trinkt ihren Kaffee, raucht und schweigt.
Tanja Schmidt begegnet mir auf dem Flur. Ich sehe die Sorge in ihrem Gesicht. Sie bittet mich, ihr in die Teeküche zu folgen.
»Ihrer Mutter geht es heute noch schlechter als in den letzten Tagen.«
»Oh … Haben Sie einen Arzt gerufen?«
»Ja. Er hat sie vor einer Stunde untersucht. Den Infekt scheint sie überwunden zu haben. Aber sie ist sehr schwach und wirkt bedrückt.«
Hätte ich ihr nicht sagen dürfen, wie sehr ich damals ihren Schutz vermisst habe?
»Es fällt mir nicht leicht, Ihnen diese Frage zu stellen: Aber könnte es sein, dass Ihre Besuche eine Belastung für Ihre Mutter sind?«
»Ich habe am Freitag schon zu Frau Grundmann gesagt, dass unsere Familie eine schwierige Geschichte hat«, antworte ich, eine Spur zu scharf. »Es gibt Gründe dafür, dass ich zwanzig Jahre lang keinen Kontakt zu meiner Mutter hatte.«
»Entschuldigung, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.« Sie lächelt. »Es ist sicher für Sie auch nicht leicht.«
Ich spüre ein Brennen in der Kehle. »Nein … ich … bin mit sechzehn schwanger geworden … meine Eltern haben mir nicht geholfen … ich konnte das Kind nicht behalten … habe es zur Adoption freigegeben und das Land verlassen …«
Tanja Schmidt legt mir die Hand auf den Arm. »Haben Sie sich mit Ihrer Mutter aussöhnen können?«
»Ja …«
»Das ist das Wichtigste.«
»Danke … auch dafür, dass Sie sich so um sie kümmern.«
»Alles Gute.«
Ich steuere auf ihr Zimmer zu, klopfe, trete ein. »Morgen, Mutter.«
Sie brummt leise. Ihr Blick hat etwas Ängstliches. Befürchtet sie weitere Anklagen?
Auf ihrer Bettdecke liegen meine Postkarten. Ich sehne mich plötzlich nach dem Engel, nach der Zeit vor Claudias Anruf, nach meinem Leben mit Francesco.
»Ich habe eben erfahren, dass der Arzt bei dir war.«
Sie nickt.
Ich setze mich zu ihr, greife nach ihrer Hand. »Hat dich das, was ich dir gestern gesagt habe, zu sehr aufgeregt?«
Ein leichtes Kopfschütteln. Sie deutet auf ihren Nachttisch. Dort liegt ihr Schreibblock.
Ich kann ihre zittrigen Buchstaben nur mit Mühe entziffern.
WEISS DEIN MANN BESCHEID
?
»Ja …« Ich zögere. »Seitdem spricht er nicht mehr mit mir.«
Sie stößt einen Würgelaut aus.
Ich beuge mich vor, will ihr helfen, sich aufzurichten. Sie will liegen bleiben.
»Keine Ahnung, wie es weitergehen wird. Er hat das Vertrauen zu mir verloren.«
Ihre Wangen werden rot. Hektisch zeigt sie mit dem Zeigefinger auf mich und dann auf den Boden vor meinen Füßen.
»Tut mir leid … Ich weiß nicht, was du meinst. Willst du es
Weitere Kostenlose Bücher