Ferne Tochter
Wie soll ich in der kurzen Zeit einen Brief an Tessa schreiben? Ich habe nicht einmal Papier, mein Füller ist in Rom.
In der Info-Mappe finde ich einen Kugelschreiber, Umschläge und zwei Bögen mit dem Briefkopf des Hotels.
Hamburg, 29 . Oktober 2011
Liebe Tessa,
Du bist eine erwachsene Frau, die ihren eigenen Weg geht. Und Du bist das Kind, das ich geboren habe und für das ich nicht sorgen konnte. Dafür bitte ich Dich aus tiefstem Herzen um Verzeihung.
Vielleicht wirst Du mich eines Tages noch einmal treffen wollen. Ich würde mich sehr freuen zu erfahren, wie Du Dein Leben gestaltest.
Wenn Du keine weitere Begegnung wünschst, kann ich das auch verstehen. Es wäre schwer für mich, aber ich weiß, dass ich kein Recht darauf habe, Dich kennenzulernen.
Ich wünsche Dir alles Gute.
Deine Judith
Als Absender gebe ich meine römische Adresse an. Wer weiß, wie lange ich dort noch leben werde, aber eine andere habe ich nicht.
Im Café Leonar herrscht viel Betrieb, die Tische an den Fenstern sind alle besetzt. Harald Jansen entdecke ich nicht. Ich finde zwei Plätze in einer hinteren Ecke und bestelle eine heiße Schokolade.
Um fünf nach halb vier betritt er das Café. Heute trägt er kein blaues Fußballhemd, sondern eine braune Wildlederjacke.
»Freut mich, dass es geklappt hat«, sagt er und gibt mir die Hand.
Er zieht seine Jacke aus und setzt sich mir gegenüber. Sein Lächeln ist entspannt. Er ist bestimmt ein guter Lehrer.
Die Kellnerin notiert seine Bestellung, einen Earl Grey und ein Stück Käsekuchen.
»Wollen Sie nichts essen?«, fragt er mich.
»Doch … auch einen Käsekuchen.«
Ich denke an mein Treffen mit Tessa, an den Moment, als sie ebenfalls Apfelkuchen wollte und ich glaubte, alles würde eine gute Wendung nehmen.
»Die Zwillinge wären am liebsten mitgekommen.«
»Wissen Sie, wer ich bin?«
»Ja. Ich habe Tessa neulich gefragt, ob es ihr recht sei, wenn ich es ihnen erzähle. Sie hatte nichts dagegen.«
»Hier ist der Brief an sie.«
»Danke. Ich sehe sie morgen. Sie kommt sonntags immer zum Frühstück zu uns.«
»Ich habe so viele Fragen …«
»Das würde mir genauso gehen. Aber Tessa hat mir ausdrücklich verboten, mit Ihnen über ihr Leben zu sprechen, falls Sie sich noch mal bei uns melden sollten. Vielleicht hätte ich auch unser sonntägliches Frühstück nicht erwähnen dürfen.«
Der Kuchen und die Getränke werden serviert. Wir unterbrechen unser Gespräch, bis die Kellnerin wieder verschwunden ist.
»Was wäre, wenn Tessa jetzt hereinkäme und uns hier sitzen sähe?«, frage ich.
»Dann gäbe es Streit. Sie würde mir vorwerfen, mein Versprechen gebrochen zu haben, und ich würde entgegnen, es war dir so wichtig, deine leibliche Mutter zu finden. Warum willst du sie jetzt nicht näher kennenlernen?«
»Bei unserem Treffen war sie sehr distanziert, was ich gut nachvollziehen kann. Sie hatte eine Reihe von Fragen, alles andere war tabu.«
Harald Jansen nickt. »Ich kann es mir genau vorstellen.«
»Ich habe mich bemüht, ihr so ehrlich wie möglich zu antworten. Warum ich sie weggegeben habe, ob ich ihren leiblichen Vater kenne, ob ich noch mit ihm zusammen war, als sie geboren wurde, wieso ich sie nicht abgetrieben habe. Wahrscheinlich war das, was sie zu hören bekam, weit erschreckender für sie, als sie erwartet hatte. Die widersprüchlichen Gefühle einer schwangeren Sechzehnjährigen sind ziemlich unerträglich.«
»Sie waren vier Jahre jünger als Tessa. Das ist schon unglaublich …«
Wir essen unseren Kuchen. Ich überlege, ob ich Harald Jansen sagen soll, was ich von Beruf bin. Oder wäre das auch eine Grenzüberschreitung?
»Seit wann leben Sie in Rom?«, fragt er und lächelt.
Ich lehne mich zurück und fange an zu erzählen.
Harald Jansen hört mir zu, wir bestellen noch eine heiße Schokolade und einen Tee.
Irgendwann klingelt sein Handy. Er entschuldigt sich, spricht kurz mit einer gewissen Sabine, die ihm offenbar sehr nahesteht. Er lädt sie ein, später mit Lena zum Essen zu kommen, er wird ein Risotto kochen. Nein? Gut, dann soll sie allein kommen.
Ob Tessa Sabine kennt?
Harald Jansen legt auf. »Manchmal ist es nicht so einfach, allen gerecht zu werden. Meine Partnerin hat eine vierzehnjährige Tochter, die keine Lust hat, den ganzen Abend mit den Zwillingen zu verbringen. Ist ja verständlich.« Er lächelt wieder. »Haben Sie … weitere Kinder?«
»Nein …« Ich zögere. »Mein Mann und ich wünschen uns
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