Ferne Tochter
bei Tessa angerufen habe.
»Bisher nicht …«
»Hast du mir nicht versprochen …«
»Nein«, unterbreche ich sie. »Habe ich nicht.«
Sie räuspert sich. »Ich habe Francesco gestern Abend auf einer Vernissage gesehen.«
»Ach … Ohne mich ist er sonst nie zu so etwas gegangen.«
»Er war nicht allein.«
In meinen Ohren rauscht es.
»Ich kenne die Frau nicht. Sie ist in deinem Alter, dunkelhaarig, elegant …«
»Hattest du den Eindruck, dass sie … zusammen sind?«
»Schwer zu sagen. Francesco ist ja immer sehr charmant.«
»Hat er dich begrüßt?«
»Aus der Ferne.«
»Vielleicht war es eine Kollegin …«
»Das glaube ich nicht.«
»Oder er hat eine Freundin seiner Schwester gebeten, ihn zu begleiten. Er weiß, dass du zu fast jeder Vernissage gehst und mir berichten wirst …«
»Mach dir nichts vor«, sagt Selina.
Ein Betrunkener torkelt auf mich zu, hält mir seine Flasche entgegen.
»Ich melde mich Anfang der Woche«, beende ich das Gespräch.
»Können Sie nicht … deutsch sprechen?«, lallt der Betrunkene.
Ich laufe zum Wagen zurück, versuche, meine Gedanken zu ordnen. In den letzten Wochen habe ich mir alles Mögliche vorgestellt, nur nicht, dass Francesco sich in eine andere Frau verlieben könnte. Es erscheint mir völlig absurd. Selina würde sagen, ich sei naiv. Vermutlich hat sie recht.
In Mutters Zimmer ist es noch wärmer als gestern. Ich öffne das Oberlicht. Mutter protestiert nicht.
»Wie geht es dir?«
Ihre Lippen zittern.
»Tut dir was weh? Soll ich Tanja Schmidt holen?«
Leichtes Kopfschütteln.
Ich ziehe den Sessel ans Bett, setze mich, hole die Zeitschriften aus meiner Tasche.
»Vielleicht lenkt es dich ab, wenn ich dir etwas vorlese.«
Ihr linkes Auge sieht mich an. Was will sie mir sagen? Du bist diejenige, die abgelenkt werden will? Nein, es ist nicht ihr prüfender, kritischer Blick.
Sie fängt an zu weinen.
Ich nehme ihre linke Hand in meine Hände. Wäre ich nur eher gekommen. Bevor sie den Schlaganfall hatte. Wir hätten miteinander reden können.
»Ich bin auch traurig«, sage ich leise und erzähle ihr von meinem Traum heute Nacht, von dem Brief an Frau Hildebrandt, von der Unterschrift beim Notar.
Mutter rührt sich nicht.
»Ich musste damals weggehen. Ich habe es in unserer kaputten Familie nicht länger ausgehalten … Vater hat uns beide beherrscht … Und du hast mit ihm gemeinsame Sache gemacht … hast dich geduckt, anstatt dich zu wehren und mich zu beschützen … Ich hätte deinen Schutz so gebraucht …« Jetzt weine ich auch. »Habt ihr mich suchen lassen?«
Sie nickt.
»Da war ich längst im Ausland. Ich bin per Anhalter in einem Rutsch bis München gefahren. Und in der derselben Nacht weiter nach Bozen …«
Ich suche nach einem Taschentuch, Mutter zeigt auf ihren Nachttisch.
»Hattest du Auseinandersetzungen mit Vater?«
Ein heftiges Nicken und Knurren.
»Hast du danach angefangen, dich zu verändern?«
Sie summt.
»Deine Strenge, deine Härte aufzugeben und zu der begeisterten, beliebten Lehrerin zu werden, von der Antonia Bremer gesprochen hat?«
Ein Singsang.
[home]
35.
I ch stehe am Fenster meines Hotelzimmers und blicke in den blauen Himmel. Hätte ich noch länger bei Mutter bleiben sollen? Sie war erschöpft. Ich auch.
Ich könnte spazieren gehen, an der Elbe, an der Alster, im Stadtpark. Oder schlafen.
Zwanzig nach zwei. Ob Harald Jansen zu Hause ist?
Ich wähle seine Nummer.
»Hallo, Jonas am Apparat«, meldet sich eine Kinderstimme.
»Hier ist Judith Velotti. Kann ich mal deinen Vater sprechen?«
»Sind Sie die Frau, die neulich hier war?«
»Ja.«
»Ich hole Papa.«
Was soll ich ihn fragen? Wie es Tessa geht?
»Guten Tag, Frau Velotti«, höre ich ihn sagen.
»Tag, Herr Jansen. Ich bin wieder in Hamburg … Mein Treffen mit Tessa vor vier Wochen war leider sehr schwierig … Jetzt überlege ich, ob ich ihr einen Brief schreibe …«
»Machen Sie das.«
»Darf ich ihn an Sie schicken? Ich habe Tessas Adresse nicht.«
»Natürlich. Oder … warten Sie mal … Haben Sie heute Nachmittag Zeit?«
»Ja.«
»Ich bringe die Zwillinge gleich zu einem Geburtstagsfest, in der Nähe der Uni. Wir könnten uns anschließend treffen. Ich denke, es wäre gut, wenn wir noch mal miteinander reden würden.«
»Ja.«
»Kennen Sie das Café Leonar, im Grindelhof?«
»Nein, aber das finde ich.«
»Um halb vier?«
»Gut. Bis dann.«
Ich lege auf. Spätestens um drei muss ich losfahren.
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