Ferne Ufer
Lebtag nicht vergessen werde.
»…haben gesagt, daß Sie hier sind. Er hatte seine Papiere in der Brieftasche… im Polizeibericht heißt es, spiegelglatte Fahrbahn unter einer Schneedecke. Er ist ins Schleudern gekommen… auf der Stelle tot…« Die Schwester redete auf mich ein, während ich durch die weißen Flure schritt und wie in Zeitlupe wahrnahm, daß die Stationsschwestern mich ansahen. Auch wenn sie nichts wußten, mußten sie beim ersten Blick erkennen, daß etwas Schreckliches geschehen war.
Er lag auf einer Bahre in einem der abgetrennten quadratischen Kämmerchen in der Notaufnahme, einem kleinen, anonymen Raum. Draußen stand ein Krankenwagen - vielleicht der, der ihn hergebracht hatte. Durch die offene Doppeltür drang kalte Luft. Die rote Lampe des Krankenwagens pulsierte und tauchte den Korridor in regelmäßigen Abständen in blutrotes Licht.
Ich berührte Frank kurz. Seine Haut fühlte sich trotz des lebendigen Aussehens wie Plastik an. Ich sah keine Verletzung, vermutlich wurde sie von dem Laken über ihm verdeckt.
Ich stand da, ließ meine Hand auf seiner reglosen Brust liegen und betrachtete ihn wie schon seit Jahren nicht mehr. Ein schmales, feingeschnittenes Profil, sensible Lippen und eine feingemeißelte Nase. Ein gutaussehender Mann, trotz der Enttäuschung und der unausgesprochenen Wut, die sich als dünne Linien um seinen Mund eingegraben hatten und die nicht einmal der Tod hatte auslöschen können.
So blieb ich lange Zeit stehen. Ich hörte das Jaulen eines anderen Krankenwagens, hörte Stimmen auf dem Korridor, eine Bahre, die quietschend dahingerollt wurde, hörte das Knistern im Polizeifunk und das sanfte Surren einer Neonlampe. Verwundert stellte ich fest, daß ich auf ein Zeichen von Frank wartete… aber worauf? Erwartete ich, daß sein Geist noch in der Nähe schwebte und den Streit ausfechten wollte?
»Frank«, sagte ich leise, »wenn du mich noch hören kannst - ich habe dich geliebt. Früher. Das habe ich wirklich.«
Da tauchte plötzlich Joe vor mir auf, bahnte sich seinen Weg durch die Menschen im Korridor, sah mich ängstlich an. Er kam direkt aus dem Operationssaal. Ein kleiner Blutspritzer klebte auf seinen Brillengläsern, und er trug noch die sterile grüne Kleidung.
Aber erst als ich sein »Claire! O mein Gott, Claire!« hörte, begann
ich zu zittern. In den letzten zehn Jahren hatte er mich nie anders als »Lady Jane« oder »Jane« genannt, und daß er mich auf einmal bei meinem Vornamen rief, machte es wirklich. Bleich hob sich meine Hand von Joes dunklen Fingern ab, und ich wandte mich zu ihm um, diesem starken, unerschütterlichen Mann, legte den Kopf an seine Schulter und weinte um Frank - zum erstenmal.
Ich lehnte das Gesicht an das Schlafzimmerfenster in unserem Haus in der Furey Street. Es war ein heißer Septemberabend, und aus den Nachbargärten hörte ich das Knallen der Kricketschläger und das Zischen der Rasensprenger. Doch ich sah nichts anderes als das unheilverkündende Schwarz und Weiß jener Winternacht vor zwei Jahren - schwarz das Eis und weiß die Krankenhauslaken.
Aber als ich jetzt zum letztenmal um Frank weinte, wurde mir klar, daß wir uns schon vor mehr als zwanzig Jahren auf dem Gipfel eines grünen schottischen Hügels namens Craigh na Dun getrennt hatten.
Als meine Tränen versiegten, stand ich auf und legte die Hand auf die glatte blaue Decke, die sich weich über das Kopfkissen auf der linken Seite - Franks Seite - schmiegte.
»Auf Wiedersehen, mein Lieber«, flüsterte ich. Dann suchte ich mir einen Platz zum Schlafen, einen Platz fern von den Geistern der Vergangenheit.
Am frühen Morgen riß mich die Türklingel aus meinem Schlaf auf der Wohnzimmercouch.
»Ein Telegramm, gnädige Frau«, sagte der Postbote und bemühte sich, nicht auf mein Nachthemd zu starren.
Diese kleinen gelben Umschläge haben wohl mehr Herzanfälle ausgelöst als alles andere - abgesehen von gebratenem Frühstücksspeck. Auch mein Herz krampfte sich zusammen, bevor es unangenehm laut weiterschlug.
Mit zitternden Fingern riß ich den Umschlag auf. Der Text war kurz - natürlich, ein Schotte verschwendet weder Worte noch Geld, dachte ich absurderweise.
»HABEN IHN GEFUNDEN«, lautete die Botschaft, »ALLES ZUR ÜBERPRÜFUNG BEREIT. ROGER.«
Ich faltete den Bogen zusammen und steckte ihn zurück in den Umschlag. Lange Zeit saß ich einfach nur da und starrte Löcher in die Luft. Schließlich stand ich auf und ging mich
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