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Ferne Ufer

Titel: Ferne Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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Exemplar von Ende Vierzig, vielleicht Anfang Fünfzig. Haben Sie auch die Beine?«
    »Ja, hier. Wir haben den ganzen Körper.«
    Anscheinend kam Horace Thompson vom Untersuchungsrichter, der von Amts wegen gewaltsame Todesfälle untersucht. Manchmal wandten sich dessen Mitarbeiter an Joe, brachten ihm verweste und verstümmelte Leichen, die sie irgendwo im Lande gefunden hatten, und baten ihn um ein Gutachten zur Todesursache. Dieses Exemplar sah wirklich reichlich mitgenommen aus.
    »Hier, Lady.« Joe beugte sich nach vorn und legte mir vorsichtig den Schädel in die Hände. »Sag mir, ob die Dame gesund war! Ich untersuche derweilen die Beine.«
    »Ich? Mit Gerichtsmedizin kenne ich mich nicht aus!« Aber schon hatte ich mich über das Fundstück gebeugt. Es war entweder sehr alt oder extremen Wetterbedingungen ausgesetzt gewesen, denn die Knochen schimmerten wie glatt poliert, was bei neueren praktisch nie vorkam. Die Flecken und die braunen Verfärbungen mußten von Erdpigmenten stammen.
    »Na gut.« Langsam drehte ich den Schädel in den Händen und betrachtete die Knochen.
    Wunderschöne gerade und hohe Wangenknochen. Im Oberkiefer waren fast noch alle Zähne erhalten - ebenmäßig und weiß.
Tiefliegende Augen. Der geschwungene Knochen unten in der Augenhöhle lag im Schatten, selbst wenn ich den Schädel auf die Seite drehte und ins Licht hielt. Der Kopf erschien mir zart und zerbrechlich.
    In einer plötzlichen Anwandlung preßte ich den Schädel an den Bauch und schloß die Augen. Mit einemmal spürte ich Trauer durch ihn hindurchströmen wie Wasser. Und ein schwaches, eigenartiges Gefühl von - Überraschung vielleicht?
    »Sie wurde umgebracht«, sagte ich. »Und sie hat sich gewehrt.« Als ich die Augen öffnete, sah ich, daß mich Horace Thompson ratlos anstarrte. Behutsam reichte ich ihm den Totenkopf. »Wo wurde sie gefunden?«
    Mr. Thompson warf Joe einen Blick zu. »In der Karibik in einer Höhle«, sagte er. »Neben einem Haufen anderer Dinge. Wir schätzen sie auf hundertfünfzig bis zweihundert Jahre.«
    »Wie bitte?«
    Joe grinste übers ganze Gesicht.
    »Unser Mr. Thompson kommt von der ethnologischen Fakultät der Universität Harvard«, erklärte er. »Mr. Wicklow, sein Kollege, ist ein Freund von mir und hat mich gebeten, mir dieses Skelett anzusehen und ein Urteil abzugeben.«
    »Du Schuft«, warf ich ihm an den Kopf. »Und ich habe gedacht, es handelt sich um ein unbekanntes Opfer aus dem Büro des Untersuchungsrichters.«
    »Nun, unbekannt ist sie«, erklärte Joe, »und wahrscheinlich wird sie es auch bleiben.« Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Karton zu, den er durchsuchte wie ein Terrier den Fuchsbau.
    »Was haben wir denn da?« Vorsichtig zog er einen Plastikbeutel heraus, der einen Haufen einzelner Rückenwirbel enthielt.
    »Sie war zerfallen, als wir sie fanden«, erklärte Horace Thompson.
    Leise vor sich hin summend, legte Joe die Rückenwirbel in der richtigen Anordnung auf seinem Schreibtisch aus. »Den Kopfwirbel an den Nackenwirbel«, sang er leise. »Den Nackenwirbel an den Rückenwirbel.« Gezielt griff er sich die richtigen Teile heraus und fügte einen Knochen an den anderen. »So, da hätten wir’s!« beendete er triumphierend sein Werk.

    »Aber hier, sieh dir das mal an!« rief er. »Du hast wohl den siebten Sinn, Lady?«
    Ich kam seiner Aufforderung nach und neigte mich neben Horace Thompson über die stacheligen Wirbel. In der breiten Wölbung des zweiten Halswirbels klaffte ein tiefer Riß; der oberste Gelenkfortsatz war sauber durchtrennt, und der Schnitt lief mitten durch das Zentrum des Knochens.
    »Hat sie sich das Genick gebrochen?« fragte Horace Thompson interessiert.
    »Ja, und Schlimmeres, glaube ich.« Joe strich mit dem Finger über den Riß. »Hier, der Knochen ist nicht gebrochen, sondern wurde an dieser Stelle durchtrennt. Jemand hat versucht, der Dame den Kopf abzuschneiden. Mit einer stumpfen Klinge.«
    Horace Thompson warf mir einen sonderbaren Blick zu. »Woher wußten Sie, daß sie umgebracht wurde, Dr. Randall?«
    Ich spürte, daß ich rot wurde. »Keine Ahnung. Ich… ich hatte einfach das Gefühl.«
    »Wirklich?« Er blinzelte verwirrt, hakte aber nicht nach.
    »Dr. Randall macht das immer so«, informierte ihn Joe, der begonnen hatte, die Oberschenkel mit einem Greifzirkel abzumessen. »Allerdings meist bei lebenden Patienten. Die beste Diagnostikerin, die ich kenne.« Er legte den Zirkel aus der Hand und nahm ein kleines

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