Ferne Ufer
sich ein grauer, moosbewachsener Fels. Mit einem Seufzer der Erleichterung glitt der junge Ian von
seinem Pony; schließlich saßen wir seit Morgengrauen im Sattel.
»Uff!« stöhnte er und rieb sich unverhohlen das Hinterteil. »Ich bin ganz taub.«
»Ich auch«, pflichtete ich ihm bei und tat es ihm gleich. »Aber immer noch besser als wundgeritten.« Da wir an lange Ritte nicht gewöhnt waren, hatten uns die ersten zwei Tage ziemlich zugesetzt. Am ersten Abend war ich sogar zu steif, um aus eigener Kraft abzusitzen. Jamie mußte mich herunterheben und in die Herberge tragen, was ihn sehr erheiterte.
»Wie macht Onkel Jamie das bloß?« fragte mich Ian. »Sein Hintern muß aus Leder sein.«
»Er schaut ganz normal aus«, entgegnete ich zerstreut. »Wo ist er überhaupt hingegangen?« Der Kastanienbraune, der bereits Fußfesseln trug, knabberte ein wenig vom Gras unter der Eiche, aber von Jamie keine Spur.
Der junge Ian und ich blickten einander an. Achselzuckend ging ich hinüber zu dem Felsen, aus dem ein Bächlein hervorquoll. Ich ließ etwas von dem kühlen Naß in meine Hände laufen und trank.
Diese winzige, von der Straße nicht einsehbare Lichtung war für das Hochland charakteristisch. Die trügerisch kargen Felsen und rauhen Moore bargen eine Unmenge Geheimnisse. Wenn man sich nicht auskannte, konnte man direkt an einem Hirschen, einem Moorhuhn oder dem Versteck eines Menschen vorbeigehen, ohne zu bemerken, daß sich dort etwas verborgen hielt. Wen wunderte es da, daß viele Kämpfer, die nach der Niederlage von Culloden in die vertraute Heide geflüchtet waren, dem ungeübten Blick ihrer unbeholfenen englischen Verfolger entkommen konnten.
Nachdem ich meinen Durst gestillt hatte, wandte ich mich um und prallte fast mit Jamie zusammen, der plötzlich wie aus dem Boden gestampft vor mir stand.
»Wo kommst du her?« fragte ich überrascht. »Und wo bist du gewesen?«
»Dort drüben ist eine kleine Höhle«, erklärte er und deutete mit dem Daumen über seine Schulter. »Ich wollte nur nachsehen, ob jemand sie entdeckt hat.«
»Und?« Beim näheren Hinsehen erkannte ich eine Felsnase, die
den Eingang zur Höhle verdeckte. Neben den anderen Spalten fiel es kaum auf, es sei denn, man suchte gezielt.
»Ja, es ist jemand dortgewesen«, antwortete Jamie. Er runzelte leicht die Stirn, nicht sorgenvoll, sondern als dächte er angestrengt nach. »Ich habe dort Holzkohle entdeckt. Jemand hat ein Feuer angezündet.«
»Kannst du dir vorstellen, wer?« fragte ich. Ich steckte den Kopf um die Felsnase, konnte jedoch nichts weiter als einen schmalen, dunklen Spalt erkennen. Beileibe nicht einladend.
Womöglich war ihm einer seiner Schmugglerkumpane von der Küste bis nach Lallybroch gefolgt. Glaubte er, verfolgt zu werden, oder befürchtete er einen Überfall? Ich blickte zurück, sah aber nichts als Erlen, deren trockenes Laub im Herbstwind raschelte.
»Ich weiß es nicht«, meinte er zerstreut. »Vermutlich ein Jäger. Die Knochen eines Moorhuhns liegen verstreut herum.«
Der unbekannte Eindringling schien Jamie nicht weiter zu beunruhigen, und ich entspannte mich. Wieder einmal gab mir das Hochland das Gefühl von Geborgenheit. Edinburgh und die Bucht der Schmuggler schienen unendlich weit entfernt.
Beeindruckt von der verborgenen Höhle, war der junge Ian durch den Spalt getreten. Als er wieder auftauchte, strich er sich eine Spinnwebe aus dem Haar.
»Ist das hier so etwas wie Clunys Käfig, Onkel?« fragte er mit leuchtenden Augen.
»Sie ist nicht so groß, Ian«, antwortete Jamie lächelnd. »Der arme Cluny hätte kaum durch den Eingang gepaßt. Er war ein großer, kräftiger Kerl und ungefähr doppelt so dick wie ich.«
»Was ist das, Clunys Käfig?« fragte ich, schüttelte mir die letzten eisigen Wassertropfen von den Händen und schob sie unter die Achseln, damit sie wieder warm wurden.
»Ach, es geht um Cluny MacPherson«, erklärte Jamie. Er spritzte sich Wasser ins Gesicht, zwinkerte sich die Tropfen von den Wimpern und lächelte mich an. »Dieser Cluny war ein sehr erfinderischer Mensch. Die Engländer brannten sein Haus nieder, aber er konnte fliehen. Er hat sich in einer nahe gelegenen Höhle niedergelassen und den Eingang mit Weidenzweigen und Schlamm versiegelt. Man sagt, man hätte knapp davor stehen können und nichts bemerkt, außer dem Geruch von Clunys Pfeife.«
»Auch Prinz Charles hat dort einige Zeit verbracht, als er auf der Flucht vor den Engländern war«, klärte der
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