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Ferne Ufer

Titel: Ferne Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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fiele ab, wenn man sie zu stark drückte. Ich erwiderte ihren Händedruck. Nachdem sie erkannt hatte, daß ich aus Fleisch und Blut war, schien sie beruhigt.
    »Ich… mich auch«, murmelte sie.
    »Sind Mama und Papa sehr wütend, Jen?« Als der junge Ian das Hündchen vorsichtig vor ihren Füßen absetzte, erwachte sie aus ihrer Trance und blickte den jüngeren Bruder an. In ihre ungeduldige Miene mischte sich eine Spur von Mitgefühl.
    »Sie haben schließlich allen Grund dazu, du Esel!« meinte sie. »Mama hat befürchtet, du wärst im Wald einem Wildschwein begegnet oder von Zigeunern entführt worden. Sie hat kaum ein Auge zugetan, bis sie herausgefunden haben, wo du hingegangen bist«, fügte sie vorwurfsvoll hinzu.
    Ian preßte die Lippen zusammen und blickte zu Boden.
    Dann ging sie auf ihn zu und pflückte mißbilligend die feuchten Blätter von seinem Rock. Obwohl sie groß war, überragte er sie um gut fünfzehn Zentimeter. Neben ihrer adretten Erscheinung nahm er sich schlaksig und mager aus.
    »Mein Gott, wie siehst du aus, Ian? Hast du in deinen Kleidern geschlafen?«
    »Ja, natürlich«, antwortete er ungehalten. »Denkst du vielleicht, ich laufe weg und nehme ein Nachthemd mit, das ich abends vor dem Schlafengehen im Moor anziehe?«

    Bei dieser Vorstellung mußte sie lachen, so daß sich seine verärgerte Miene ein wenig aufhellte.
    »Also, du Dummkopf«, erbarmte sie sich, »komm mit in die Spülküche. Wir bürsten und kämmen dich, bevor Mama und Papa dich zu Gesicht bekommen.«
    Er funkelte sie an und wandte sich dann gleichermaßen bestürzt und verärgert zu mir um. »Warum, verflixt noch mal, glaubt jeder, daß es hilft, wenn man sauber ist?«
    Jamie grinste, stieg ab und klopfte Ian auf die Schulter, so daß eine kleine Staubwolke aufstieg.
    »Schaden kann es nicht, Ian. Geh schon. Es ist bestimmt besser, wenn deine Eltern sich nicht über alles gleichzeitig aufregen müssen. Und zuerst möchten sie ohnehin deine Tante begrüßen.«
    »Mmmpf.« Unter mißmutigem Nicken folgte der junge Ian seiner resoluten Schwester zum hinteren Teil des Hauses.
    »Was hast du denn gegessen?« hörte ich sie sagen, als sie an ihrem Bruder emporschielte. »Dein Mund ist so verschmiert.«
    »Das ist kein Schmutz, das ist ein Bart!« zischte er zornig und blickte sich hastig um, um zu sehen, ob ich oder Jamie den Wortwechsel gehört hatten. Seine Schwester blieb wie angewurzelt stehen und betrachtete ihn genauer.
    »Ein Bart?« wiederholte sie laut und skeptisch. »Du?«
    »Jetzt komm schon.« Er packte sie am Ellbogen und zog sie verlegen durch das Tor des Gemüsegartens.
    Jamie drückte den Kopf an meinen Schenkel. Bei oberflächlicher Betrachtung hätte man vermuten können, er wolle die Satteltaschen öffnen, aber tatsächlich vibrierten seine Schultern vor lautlosem Gelächter.
    »Die Luft ist rein, sie sind weg«, sagte ich einen Augenblick später, das Lachen mühsam unterdrückend.
    Jamies roter Kopf tauchte aus meinen Röcken auf. Er trocknete seine feuchten Augen an einem Stoffzipfel.
    »Ein Bart? Du? « ächzte er, und wir platzten wieder los. Atemlos schüttelte er den Kopf. »Lieber Himmel, sie ist wie ihre Mutter. Genau das hat Jenny zu mir gesagt, und im selben Ton, als ich mich zum erstenmal rasiert habe. Ich hab’ mir vor Schreck fast die Kehle durchgeschnitten.« Er fuhr sich sanft über die dichten, weichen Stoppeln, die Kinn und Hals bedeckten.

    »Willst du dich rasieren, bevor wir Jenny und Ian begrüßen?« fragte ich ihn.
    »Nein«, antwortete er kopfschüttelnd und strich sich das Haar zurück, das sich aus dem Pferdeschwanz gelöst hatte. »Der junge Ian hat recht: Sauber zu sein hilft nichts.«
     
    Zweifellos hatten Ian und Jenny das Hundegebell gehört. Bei unserem Eintreffen erwarteten sie uns beide im Salon. Sie saß mit einem Strickstrumpf auf dem Sofa, er stand in schlichtem braunen Rock und Kniehosen vor dem Kaminfeuer und wärmte sich die Waden. Ein Tablett mit Gebäck und hausgemachtem Bier stand als Willkommensgruß bereit.
    Diese Begrüßung ließ mich meine Erschöpfung vergessen. Mit einem Lächeln wandte Ian sich uns zu. Aber mich interessierte vor allem Jenny.
    Ihr schien es genauso zu gehen. Schweigend saß sie auf dem Sofa und blickte aufmerksam zur Tür. Sie sah anders aus, war mein erster Gedanke, dann aber erschien sie mir plötzlich ganz und gar unverändert. Ihr Haar war nach wie vor lockig und dicht, wenn auch nicht mehr so tiefschwarz, sondern von silbernen

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