Ferne Ufer
ohne ein Sterbenswörtchen zu sagen, drei Tage lang nicht eine Spur von dir, bis Joe Fraser uns deinen Brief gebracht hat! Kannst du dir vorstellen, was diese drei Tage für sie bedeutet haben?«
Entweder war es Ians Gesichtsausdruck oder seine Worte, jedenfalls schien sein Sprößling ziemlich verstört. Der junge Ian senkte wieder den Kopf und starrte zu Boden.
»Ich dachte, Joe würde den Brief früher bringen«, murmelte er.
»Aye, der Brief!« Ians Gesicht wurde noch röter, während er sprach. »›Bin nach Edinburgh gegangen‹ war alles, was darin stand.« Er schlug mit der Hand auf den Tisch, so daß alle zusammenzuckten. »Nach Edinburgh gegangen! Nicht etwa ›mit Eurer Erlaubnis‹ oder ›Ich melde mich bald‹, nichts als: ›Liebe Mutter, ich bin nach Edinburgh gegangen. Ian.‹«
Der Kopf des Jungen schnellte hoch, seine Augen glühten.
»Das stimmt nicht! Da stand noch ›Macht Euch keine Sorgen‹ › In Liebe , Ian‹. Nicht wahr, Mutter?« Zum erstenmal sah er flehentlich seine Mutter an.
Sie hatte sich mucksmäuschenstill verhalten und keine Miene verzogen, nachdem ihr Mann das Wort ergriffen hatte. Jetzt blickten ihre Augen sanfter, und sie ließ sich fast zu einem Lächeln hinreißen.
»Ja, Ian, das stimmt«, erklärte sie. »Das war wirklich nett von dir. Aber ich habe mir dennoch Sorgen gemacht, verstehst du?«
Er senkte die Lider und schluckte.
»Es tut mir leid, Mama«, sagte er kaum hörbar. »Ich… ich wollte nicht…« Seine Worte erstarben, und er zuckte die Achseln.
Als Jenny unvermittelt die Hand nach ihm ausstrecken wollte, begegnete sie dem Blick ihres Mannes und ließ sie wieder in den Schoß sinken.
»Die Sache ist die«, sagte Ian klar und deutlich, »daß es nicht das erstemal war, nicht wahr, Ian?«
Der Junge antwortete nicht, sondern machte nur eine Bewegung, die Zustimmung bedeuten mochte. Der Vater trat auf seinen Sohn zu. Obwohl sie nahezu gleich groß waren, unterschieden sie sich doch gewaltig voneinander. Ian war zwar groß und schlank, aber trotzdem ein muskulöser, kräftiger Mann, der durch sein Holzbein kaum behindert wurde. Im Gegensatz zu ihm wirkte sein Sohn fast zerbrechlich und unbeholfen.
»Nein, es ist nicht so, als hättest du nicht gewußt, was du tust, als hätten wir dich nicht über die Gefahren aufgeklärt, als hätten wir dir nicht verboten, über Broch Mordha hinaus zu gehen - und als hättest du nicht gewußt, daß wir uns Sorgen machen! Du hast das alles ganz genau gewußt - und trotzdem hast du es getan!«
Bei dieser gnadenlosen Analyse seines Verhaltens überlief den jungen Ian ein leiser Schauder, aber er hüllte sich hartnäckig in Schweigen.
»Sieh mich an, Bursche, wenn ich mit dir rede!« Langsam hob der Junge den Kopf. Sein Blick war mürrisch, aber auch resigniert. Offensichtlich waren ihm Auftritte wie dieser nicht fremd, und er wußte, womit sie endeten.
»Ich werde deinen Onkel nicht einmal fragen, was du getrieben hast«, erklärte Ian. »Ich kann nur hoffen, daß du dich in Edinburgh
nicht so dumm aufgeführt hast wie hier. Was immer du sonst noch angestellt haben magst, auf jeden Fall hast du mir nicht gehorcht und deiner Mutter fast das Herz gebrochen.«
Jenny wollte etwas einwerfen, doch eine brüske Handbewegung von Ian gebot ihr Schweigen.
»Was habe ich dir gesagt, Ian, als ich dich das letztemal geschlagen habe? Sag es mir!«
Das Gesicht des Jungen verhärtete sich, aber er schwieg.
»Sag es mir!« brüllte Ian und schlug abermals mit der Hand auf den Tisch.
Erschrocken zwinkerte der junge Ian. Er spannte die Schultern an und löste sie wieder, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er nun lieber ganz klein oder viel größer wäre. Er schluckte schwer und zwinkerte noch einmal.
»Du hast gesagt… du ziehst mir das Fell ab, wenn es noch einmal passiert.« Beim letzten Wort machte sich wieder der Stimmbruch bemerkbar, und er preßte verlegen die Lippen aufeinander.
Ian schüttelte mißbilligend den Kopf. »Aye. Und ich dachte, du hättest genügend Verstand, um zu verhindern, daß es ein nächstes Mal gibt. Aber da habe ich mich wohl getäuscht!« Er schnaubte. »Ich bin wirklich sehr zornig, Ian, und das ist die Wahrheit.« Er deutete mit dem Kopf zur Tür. »Geh hinaus. Wir sehen uns am Tor wieder.«
Im Raum herrschte angespanntes Schweigen, während die schlurfenden Schritte des Missetäters auf dem Flur verhallten. Ich blickte unverwandt auf meine im Schoß gefalteten Hände. Neben mir saß
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