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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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ergriffen von der plötzlichen Gefühlsaufwallung, hörte ich den Schweizer mit brüchiger Stimme sagen: »Und das ganze Land da unten soll dir gehören, Carlì?« Nur er konnte in einem solchen Augenblick mit einer solchen Frage herausplatzen! »Meiner Großmutter«, gab ich ihm zur Antwort.
    »Verdammt, das ist’n Scheiß wert«, sagt er. »Aber stell dir mal vor, das Meer würde fünfzig Kilometer weiter reichen, vielleicht würden auch schon vierzig Kilometer Luftlinie genügen … Dann wärst du steinreich. Ein Seebeben müsste her, das wär’s!«
    »Und die Toten, die wären dir wohl schnurz?«, entgegnet Tarcisio.
    »Früher oder später müssen wir alle dran glauben... Wenigstens wäre es dann zu etwas gut. Überleg doch mal, wie viele Touristen - ich meine wirkliche Touristen - aus aller Welt hierherkämen. Den Hafen können wir genau da unten bauen, und hier legen wir einen Panoramaweg an, von dem aus man die in den Fluten untergegangenen Bauernhäuser sehen kann. Von wegen Capri! Das wäre besser als Pompeji, viel besser! Wir werden steinreich, und du Carlino, der Allerreichste von allen. Das wär doch ein Leben wie im Schlaraffenland, oder?«
    Seit das Wetter besser geworden war, hatte ich auch meine Wallfahrten zu Onkel Arcangelos Wohnstatt und die Meditationen auf dem Dach wieder aufgenommen. Ich wartete auf die bewölkten
Nächte mit Mondschein, die immer die spektakulärsten sind, und kletterte dann aus dem Fenster meines Zimmers, kämpfte gegen den Schwindel an, nahm den Weg über die lockeren Dachziegel und legte mich auf eine Decke. Aus dieser Position betrachtete ich, wie die dunklen wirbelnden Wolken mit den glänzenden, blinkenden Rändern mal langsam, mal schnell jene phantastischen Formen annahmen, welche die Alten in ihren Atlanten als mythologische Verkrustungen darstellten. Während sie lautlos über meinem Kopf dahinglitten, dachte ich an das Seebeben. Auch wenn ich fast lachen musste, schmiedete ich trotzdem Pläne.
    An jenem Abend jedoch versuche ich - eingedenk des Großen Handbuchs zur Bestimmung der Wolken , des vielleicht gewichtigsten Werks meines Meisters Sabino Corelli, das aber eigentlich auf dem Kapitel »The Region of the Cirrus« in John Ruskins Modern Painters (1843) fußt und ihm die Idee verdankt, dass man selbst die Wolken klassifizieren kann, diesen Inbegriff des Unbeständigen, Launischen und Flüchtigen, den man nichtsdestotrotz in zehn Familien unterteilen und diese ihrerseits nach ihrer Struktur in vierzehn Spezies untergliedern und diese wiederum nach den von ihnen erzeugten Luftbewegungen jeweils in vier Klassen ordnen und diese wiederum nach ihrer Transparenz und Geometrie nochmals in jeweils neun Varietäten unterscheiden kann -, an jenem Abend also versuche ich gerade zu ergründen, ob das Wölkchen vor mir ein cumulus humilis oder calvus ist, als eine Stimme mein Grübeln unterbricht. »He, da oben!«, ruft sie.
    Ich springe auf und bringe dabei die Dachziegel gefährlich ins Rutschen. Unten steht ein Mädchen, und zwar ausgerechnet in der Nähe von Sankt Barbara. Es handelt sich eher um eine Vision als um ein Mädchen: Was sonst könnte ein Wesen sein, das um diese nächtliche Stunde in einem gottverlassenen Nest im Apennin erscheint und in ihrem bunten Kleid im Mondlicht schillert wie der Schuppenschwanz einer Wassernixe? Fassungslos starre ich sie an, während sie mit dem Arm auf die Ruine von Sankt Barbara zeigt und fragt: »Ist das eine ungenutzte Kirche?«

    »Ja … das heißt … Meine Familie hält dort ihre Hühner«, murmele ich schüchtern.
    Von meinem Standort aus gelingt es mir nicht, auszumachen, ob sie wirklich so wunderschön ist, wie ich sie mir vorstelle, doch mir genügt ihre Stimme, die sagt: »Unglaublich. Komm, zeig mir, wie sie von innen aussieht«, um mich in meiner Überzeugung zu bestärken. Doch da ich die Großmutter für den Fall, dass sie schläft, wecken könnte, bin ich gezwungen, ihr in gedämpftem Ton zu antworten: »Jetzt geht das nicht. Ich habe keine Schlüssel.«
    »Ach so. Und wie kommt es, dass du auf dem Dach bist?«, fragt sie kichernd.
    »Nur so. Ich hab mir die Wolken angeschaut«, antworte ich, als wäre es das Normalste auf der Welt - und für mich ist es das auch.
    »Wie rrromantisch!«, zwitschert sie. »Zeigst du sie mir auch?«
    Beinahe erwidere ich, dass auch das unmöglich sei, aber verdammt, dann würdest du selbst bei einem Seebeben das übliche Arschloch bleiben, sage ich mir, denn die Wahrscheinlichkeit,

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