Ferne Verwandte
des Tages über die verschneiten Felder und blieb hin und wieder stehen, um im Notizbuch lyrische Impressionen festzuhalten. Am Abend goss ich sie dann bei Kerzenschein in Verse, bevor ich mich schließlich ins Bett kuschelte, wo mich im Schlaf, der mich sofort übermannte, weitere Visionen heimsuchten, die ich am Morgen in mein neues Gedicht Andere Universen einarbeitete. Bis eines Morgens Stimmen aus dem Gemüsegarten an mein Ohr drangen. Ich öffnete die Fensterläden. Ein Mann, dessen Konturen sich gegen die blaue Weite des Tals abzeichneten, schwebte in der Luft und befestigte die Stromkabel an den Spitzen der in der Sonne glänzenden Stahlgerippe: Endlich war wieder Frühling.
Ins normale Leben zurückzukehren, wieder in den Bus zu steigen, die altvertrauten Gesichter zu sehen und aufs Neue den Gestank der alten Zeiten zu riechen - die Kälte und der Stromausfall hatten uns zeitweise auch von der Wasserzufuhr abgeschnitten - war, als ließe man eine lange Krankheit hinter sich. Ich begrüßte Apache, Tarcisio und den Schweizer, die meinen Gruß herzlich erwiderten. Die Einsamkeit hatte uns den Groll, den wir gegeneinander hegten, vergessen lassen - in meinem Fall auch noch den Liebeskummer, wie ich mit Erleichterung feststellte, als ich auf Renatas Sitzplatz schielte. Wir hatten große Sehnsucht nach der Sonne und genossen sie, an die Fenster gelehnt, oder wir legten uns nach der Schule ins Gras und vertrödelten die Zeit. Damit noch nicht zufrieden, machten wir uns eines Tages auf die Suche nach einer noch wärmeren Sonne. Wir fuhren über die übliche Haltestelle hinaus bis nach Salerno, und auf einer kleinen abschüssigen Straße tauchte es in dem
Zwischenraum zwischen den beiden Mietshauszeilen, eingezwängt zwischen den dunklen Umrissen der Balkone, vor uns auf - ruhig und himmelblau. Das Meer. Eine Stunde mit der Fähre, und wir waren auf Capri.
Wir bummelten über die Mole, bewunderten die großen weißen Jachten und die Segelschiffe mit den drei oder mehr Masten und versuchten zu erspähen, wer sich, gut abgeschirmt, in den mit hellem Holz ausgetäfelten Kajüten befand. Wir spazierten durch die Altstadtgässchen und blieben wie betäubt vor dem Luxus in den Auslagen der Geschäfte stehen, in denen es nur so wimmelte von Ladys mit Foulards und imposanten Brillen. Sie hielten Hündchen im Arm und hatten junge, braun gebrannte oder bleiche, aufgedunsene, bejahrte Begleiter im Schlepptau, und während sich die Welt wie immer mehr schlecht als recht um ihre eigene Achse quälte, schien hier die einzige Sorge darin zu bestehen, sich zwischen diesem oder jenem Pullover, diesem oder jenem Schmuckstück oder diesem oder jenem antiken Möbel entscheiden zu müssen, bevor es dann weitergehen würde zu einem Drink in einer der begehrtesten Bars des Erdballs, wo auch wir nun Platz nahmen, nachdem wir uns mit unserem Busfahrer-Schüler-Frühstück vollgestopft und unsere Bücher hinter einer Gartenmauer aufgestapelt hatten: Hochgeklappter Hemdkragen, Sonnenbrille und eine gewisse Lässigkeit genügten, um uns das Gefühl zu geben, Teil dieses internationalen Ambientes zu sein.
Wir hielten uns bis zum Sonnenuntergang auf der Piazzetta auf, Seite an Seite mit Mädchen aus England oder Nordamerika in marineblauen Baumwollkostümen, mit abgemagerten jungen Französinnen und deutschen Snobs mit protzigen Golduhren - all dies keine zwei Fahrstunden von unserem gottverlassenen Kaff entfernt. Dann bestiegen wir wieder die Fähre und nahmen uns fest vor, am nächsten Tag zurückzukehren. Während aber das Wetter immer schöner und die Tage immer länger wurden, gingen wir bestenfalls noch hinauf zum höchsten Punkt des Dorfs. Der Anblick dieses ganzen Luxus hatte uns letztlich entmutigt. Niemals würden wir so leben
können, obwohl ich diesbezüglich noch immer gewisse Hoffnungen hegte. Dennoch schauten wir, unter dem Gekreuzigten sitzend, der das Tal in seine Arme schloss, in Richtung der Insel und beschworen sehnsüchtig jedes Detail jenes unvergesslichen Tages herauf.
Bis eines Nachmittags ein sanfter Wind die Luft reinigte und wir sahen, wie sich die kleine Mulde zwischen den Abhängen mit einem irisierenden Flimmern belebte und die Segel einer Jacht - genau eine »jener« Jachten, hätten wir schwören mögen - im Sonnenlicht leuchteten. Nur ein paar Augenblicke dauerte das. Es war das erste Mal seit Pits Zeiten, dass ich von der Höhe unseres Adlerhorstes einen Blick auf das Meer erhaschte, und selbst noch ganz
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