Ferne Verwandte
gelenkt. Mit ihren bloßen Füßen trippelt sie im Saal über die Teppiche. Dann bleibt sie vor dem von Kerzen beleuchteten Reliquiar stehen und fragt in meine Richtung: »Was ist das?«
»Onkel Arcangelo«, antworte ich, als wäre es das Natürlichste auf der Welt.
»Onkel Arcangelo?«
»Ja, der Schienbeinknochen von Onkel Arcangelo. Ich habe dir doch erzählt, dass sie ihn zerfleischt haben und auch den noch aufgefressen hätten, wenn die Legionäre nicht dazwischengekommen wären. Die haben dann alle Kannibalen mitsamt dem Schamanen umgebracht.«
» Wirk-lich ma-gisch … Er muss mit einer Menge Mana aufgeladen sein.«
Ich mustere sie fragend.
»Mit kosmischer Energie, meine ich. Bitte, ich möchte ihn berüüühren«, sagt sie mit dem Gesichtsausdruck einer Besessenen.
Ich öffne das Fensterchen für sie, und sie steckt die Hand hinein und greift sich den Knochen. Sie streichelt ihn, liebkost ihn und blickt mich an. Dann sagt sie: »Ha! Wirklich magisch. Berühr ihn selbst, los, berühr ihn.«
Ich tippe ihn kaum an. Auch wenn es sich um den Knochen meines eigenen Onkels handelt, löst er in mir doch einen gewissen Abscheu aus. In ihr nicht im Geringsten. Sie führt ihn an ihre Stirn und drückt das andere Ende gegen die meine. Dann fragt sie: »Spürst du die Energie nicht?«
Mehr als irgendetwas anderes spüre ich ihre im Einklang mit der Hippie-Ikonographie büstenhalterfreien Titten und ihr Schambein, das sich gegen das meine presst, doch um die Atmosphäre nicht zu stören, sage ich: »Doch, es stimmt. Ich füüühle … ich fühle eine Vibration.«
Immer noch den Schienbeinknochen mit unseren Stirnen haltend, lassen wir uns mit bemerkenswertem Gleichgewichtssinn auf dem Teppich nieder. Sobald wir sitzen, lässt sie die Reliquie zwischen unseren Nasen und unseren Lippen kreisen, und während das gute Stück weiter nach unten wandert, versiegeln wir unsere Lippen mit einem nicht allzu spirituellen Kuss. Dann öffnet sie eine Reihe ihrer unzähligen Knöpfe, schiebt das Dutzend Kettchen zur Seite und streicht sich mit dem Knochen über die Haut zwischen den entblößten Brüsten. Sie schält sich aus dem Kleid wie aus einer Hülse und immer noch nicht zufrieden, will sie, dass ich sie überall mit ihm abreibe, bis sie anfängt, sich zu winden und zu stöhnen: »Jetzt … jetzt bin ich voller Mana : Spürst du die Energie?« Und ob ich sie spüre!
Zehn Minuten später betrachte ich sie näher. Giuditta besucht das Giulio-Cesare-Gymnasium in Rom. Sie hat Castañedas Die Lehren des Don Juan gelesen, und da sie im Augenblick nicht nach Mexiko kann, hat sie sich mit einer Reise in den Süden begnügen
müssen - in das Heimatdorf ihres Vaters, der Richter ist und mit einer Engländerin verheiratet, die ebenfalls einen Spiritismusfimmel hat. Giuditta ist auf der Suche nach den Ursprüngen der Magie im Mittelmeerraum - in der Zwischenzeit hat sie Ernesto De Martino und Christus kam nur bis Eboli gelesen -, und außerdem sucht sie nach ihren Wurzeln. Ins Dorf ist sie nur als kleines Kind einmal gekommen, und auch jetzt ist eigentlich nicht klar, ob sie aus eigenem Willen zurückgekehrt ist oder weil ihr Vater sie hergeschickt hat, um sie von ihrem stets bekifften Freund fernzuhalten. Auf jeden Fall braucht sie nicht lange, um sich hier zu akklimatisieren.
Wir vereinbaren ein Treffen für den folgenden Tag, weil ich ihr das abgelegene Landhaus der echten Mona Lisa zeigen und sie natürlich wieder ficken möchte. Auch wenn ich beinahe platzen würde, erzähle ich Apache und den anderen nichts von ihr: Wie sollte ich mir die Bande sonst vom Hals halten? Deshalb meide ich die Piazza, mache einen großen Umweg und verstecke mich halb hinter einem Baum, während ich auf sie warte. Als ich Rinos VW-Bus auftauchen sehe, verstecke ich mich ganz, aber er bremst schon ab und bleibt genau vor mir stehen. Neben ihm sitzt Giuditta, die mich frisch-fröhlich fragt: »Was machst du denn hier?«
»Ich habe …«, antworte ich ausweichend in typischer Südländermanier.
Seit dem Abend der Gagenaufteilung habe ich nicht mehr mit Rino geredet, es hatte sich auch keine Gelegenheit dazu ergeben. Nachdem sich die Misantropi in den Winterschlaf zurückgezogen hatten, um auf die nächste Hochzeitssaison zu warten, hat er die Schule endgültig geschmissen. Jetzt arbeitet er für Motte, fährt über Land und verkauft alle möglichen Waren, die er über Megafon anpreist. Er starrt mich mit seiner üblichen herausfordernden Miene an,
Weitere Kostenlose Bücher