Ferne Verwandte
dass dir mitten in der Nacht in diesem Scheißkaff so eine Gestalt unterkommt und dich bittet, ihr die Wolken zu zeigen, ist fast noch geringer als ein Seebeben, das besagtes Scheißkaff in einen internationalen Touristenort verwandeln würde. So teile ich ihr in gerade noch verständlichem Flüsterton mit: »Warte, ich komm dich holen«, und durchquere die stillen Räume des Hauses. Es dauert ein Weilchen, bis ich draußen im Hof bin, und als ich dort ankomme, sehe ich sie nicht mehr. Nicht dass ich mich darüber gewundert hätte. Es war eben nur ein Traumbild.
Doch da ist sie schon wieder. »He, hier bin ich!«, wispert sie, und ich drehe mich um. Sie ist nicht nur schön, sondern geradezu der Prototyp eines Hippiemädchens, wie man sie auf den Plattenhüllen der Incredible String Band sieht: zart und geschmeidig, mit einem strahlenden Gesicht unter der schwarzen Mähne, die sie mit einem riesigen Stoffhut bedeckt hat. Sie betrachtet mich und wirft dann lachend den Kopf zurück. »Ich heiße Giuditta, und du?«
»Carlino«, antworte ich - man stelle sich das einmal vor: Carlino ! »Das heißt, Carlo«, verbessere ich mich, und um ein Haar hätte ich ihr die Hand gedrückt und damit auf himmelschreiende Weise gegen das ungeschriebene Sittengesetz jener Jahre verstoßen.
»Gehen wir, Carlino?«
»Ja, aber wir müssen aufpassen, dass wir keinen Lärm machen.«
»Natürlich«, lächelt sie und hakt sich bei mir unter.
Während wir durch die Räume gehen, die mir jetzt überhaupt nicht mehr still vorkommen, kann ich die weiche Rundung ihrer Hüfte spüren, außerdem höre ich Onkel Teodorino und Tante Ines schnarchen - man muss sich direkt schämen, wie sie schnarchen, aber sie amüsiert es. Sie umklammert meinen Arm und drückt sich mit Verschwörermiene noch dichter an mich. Endlich in meinem Zimmer angelangt, verriegle ich die Tür, als hätte ich soeben den kostbarsten aller Schätze hineingetragen, und sie stellt fest: »Ein nettes kleines Häuschen habt ihr da, hm?«
»Geräumig ist es schon. Früher waren wir mehr als dreißig Leute hier, aber jetzt sind meine Cousinen verheiratet und meine Onkel und Tanten alle tot. Alle, bis auf die Schnarcher. Wir sind nur noch zu viert, wenn man meine Großmutter dazurechnet«, und ich erschaudere bei dem Gedanken, was passieren würde, wenn sie ins Zimmer platzte. Dann helfe ich Giuditta aus dem Fenster hinaus, und wir begeben uns, einander immer noch bei der Hand haltend, über die Dächer bis zu meinem Beobachtungsposten. Dort stehen wir und betrachten die lentikularen Zirruswolken, die das Gebirge und die unnatürliche Transparenz des Tals durchschneiden.
»Es ist wunderschön«, sagt sie. »Das ist alles wunderschön«, bekräftigt sie.
»Tja, schon«, gestehe ich, soweit es meine rhetorischen Fähigkeiten erlauben. Sie dreht sich derweil in die Richtung von Onkel Arcangelos Loggia und sieht den Widerschein der Kerzen, die ich habe brennen lassen. »Und da drinnen … Was ist da drin?« Ich erzähle ihr die Geschichte von Arcangelo, dem Dichter, Weltenbummler
und in Afrika aufgefressenen Legionär. » Suuuper «, sagt sie und hat plötzlich das Interesse an der Wolkenlandschaft verloren. Obwohl es den Anschein hat, als würden alle Himmel der Welt über unseren Köpfen wirbeln, will sie jetzt nur noch zu Onkel Arcangelo. Sobald wir dort angekommen sind, erkundet sie verzückt jeden Winkel, streicht sachte über alle Gegenstände, über Jaguarfelle und Lanzen, und betrachtet die Fotos und Gemälde an den Wänden. Von Zeit zu Zeit höre ich sie sagen: super - unglaublich - magisch - das vor allem: magisch. Dann setzt sie sich auf einen der kleine Throne, die an einen Bugatti-Sitz erinnern, befreit ihre üppige Mähne von dem Hut, schlüpft aus den grünen Peter-Pan-Stiefeletten und lässt den blauen Samt ihres langen Kleides zwischen die nackten Schenkel fallen. Sie sähe aus wie Sir Lawrence Alma-Tademas römische Kaiserin auf dem Druck, der genau über ihrem Kopf hängt, würde sie sich nicht ausgerechnet jetzt einen Joint anzünden. Sie nimmt ein paar Züge und reicht ihn mir. Es ist mein erster seit Pits Zeiten - mittlerweile weiß ich, um was es sich damals gehandelt hat -, und sosehr ich mich auch bemühe, etliche tiefe Züge zu machen, bleibe ich doch stocknüchtern. Sie dagegen wirkt konfus, sieht mich an und lacht. »Welches Tierkreiszeichen bist du?«, fragt sie. Und dann: »Darauf hätte ich gewettet.« Aber ihre Aufmerksamkeit wird auf etwas anderes
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