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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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Müdigkeit versetzte uns der benebelnde Gestank dort in eine Art Halluzinationszustand, und bald schon fühlten wir uns umzingelt von einer Schar furzender Flüchtlinge und zerzauster Männer und Frauen, die uns wie die Pestkranken auf den Karren der Totengräber vorkamen - vielleicht weil wir gerade die Pflichtlektüre von Manzonis Verlobten hinter uns hatten -, bis wir schließlich, als bereits der Tag dämmerte, in einen Lokus traten und unter dem Waschtisch eine Plastiktonne mit wimmelnden Aalen entdeckten. Keiner von uns hatte die Kraft, die Wahrhaftigkeit dieser Vision zu bestätigen. Es war klar, dass wir mit offenen Augen träumen mussten, und so schlossen wir sie lieber. Wie die anderen Entrechteten streckten wir uns bis Mailand auf dem Gang aus und schliefen.
    Wir waren vier Schüler aus dem Süden, die Urlaub machten, und doch verspürten wir unter den riesigen düsteren Glasscheiben des Bahnhofs dieselbe Beklemmung wie unsere Landsleute, die in ihrer Eigenschaft als Emigranten hier ausstiegen. So nahmen wir schleunigst einen Zug nach Chiasso und waren froh, diesen Ort der Leiden zu verlassen. Nach zehn Minuten in einem der üblichen Aborte mussten wir allerdings einem Kontrolleur öffnen, der uns ungefähr so viel abknöpfte, wie die ganze Fahrkarte ab Rom gekostet hätte. Am Zoll schickten wir einen Gutteil unseres persönlichen Reisegepäcks zurück in die Heimat, weil es uns jetzt, da wir kein Auto mehr hatten, nicht mehr so unentbehrlich vorkam, und wieder waren wir on the road und ohne diese Bürde tatsächlich so frei und leicht wie Kerouac und Genossen. Mit Freude stellten wir fest, dass es hier keine Tramper gab - die wiederum vielleicht deshalb fehlten, weil es auch niemanden gab, der sie mitgenommen
hätte. Nach vier Stunden Wartezeit dachte jeder in seinem Innersten darüber nach, ob dieses ganze Gerede von der Anhalterei nicht doch ein Riesenquatsch war, und als Apache und ich mitten in der Nacht an einer Raststätte Tarcisio und den Schweizer wiederfanden - kaum vierzig Kilometer von der Stelle entfernt, wo wir in zwei verschiedene Fahrzeuge gestiegen waren -, hatten wir keinerlei Zweifel mehr. Fix und fertig betraten wir das Motel, um dort unsere erste teutonische Speise auf der Grundlage von Sauerkraut und Würstchen zu verzehren, doch es genügte eine nette blonde Kellnerin, die uns - und Apache im Besonderen - schöne Augen machte, und schon hellte sich unsere Stimmung auf. Wir waren Italiener, und bald würde uns eine unglaubliche Zahl von Nordländerinnen zu Füßen liegen. Während die Blondine uns bediente, fragte sie, wo wir hinwollten. Amüsiert hörte sie sich die Geschichte unserer Unannehmlichkeiten an, zeigte beim Lachen ihre gelben Zähne und versprach, am nächsten Morgen einen befreundeten Fernfahrer zu bitten, uns nach Zürich mitzunehmen. Apache wartete hoffnungsvoll vor dem Kücheneingang auf das Ende ihrer Schicht, konnte ihr aber nur ein Lächeln entlocken, bevor sie in den Opel ihres Freundes stieg.
    Zusammen mit den anderen legte ich mich in meinem Schlafsack auf eine Wiese, entzückt, das Dach des Sternenhimmels, wie man so schön sagt, über mir zu haben. Feuchtigkeit, Insekten und Schiss vor durchgeknallten Raubmördern hielten uns allerdings wach, und kaum waren wir dann doch eingeschlafen, wurde unser Trommelfell von einem trillernden Jodler aus Emmentals Radiowecker durchbohrt. Bevor wir über ihn herfielen, begannen die Philosophischeren unter uns sogleich darüber nachzugrübeln, was für ein einziger Gemeinplatz das Leben doch ist: Zum Schall eines Jodlers in der Schweiz aufzuwachen - ist ein größerer Gemeinplatz überhaupt denkbar?
    Nachdem wir uns die Rucksäcke umgehängt hatten, überquerten wir die Straße in Richtung Motel und hatten plötzlich eine Vision: Mit seiner Höchstgeschwindigkeit von ungefähr achtzig Kilometern
pro Stunde sahen wir Rinos VW-Bus daherbrettern. Am Anfang hatten wir wirklich geglaubt, wir würden mit dem Kleinbus fahren - handelte es sich nicht um das Lieblingsfahrzeug der Jugendlichen aller Welt auf dem Weg in die Freiheit? -, aber Motte war nicht dieser Meinung gewesen. Vielleicht war es Rino gelungen, ihn im letzten Augenblick doch noch zu überzeugen? Deshalb also war er nicht zur verabredeten Zeit erschienen! Wie Schiffbrüchige, die ein Boot gesichtet haben, ruderten wir mit den Armen, hüpften herum und schrien. Vergebens. War er es jetzt, oder war er es nicht? Auch wenn er mit kurz geschnittenen Haaren, Jackett und

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