Ferne Verwandte
im Süden - die Arbeit jetzt beiseitelegen würde, um das herzhafte Abendessen zuzubereiten, das uns vielleicht für diese Verrohung entschädigt hätte; oder dass, wenn sie sich schon nicht selbst aufraffte, zumindest der Ehemann wie jeder Ehemann sie dazu drängen würde. Als klar war, dass nichts von alle dem geschehen würde, stellte Tarcisio mit einem tiefen Seufzer fest: »Tja, es ist spät geworden.«
Der Schweizer unternahm einen letzten jämmerlichen Versuch, einen Schimmer jener Aufmerksamkeit zu erregen, die ihm gebührte, und sagte mit brüchiger Stimme: »Also dann, Ma, Pa … Wir gehen jetzt also?«
Die Mutter blickte kaum vom Strickzeug auf und sagte: »Gute Reise, Bastià.« Auch der Vater sagte: »Gute Reise, Bastià« - der legendären meridionalen Gastfreundschaft zum Trotz. Keiner von uns hatte den Mut, das anzusprechen, geschweige denn den armen Toblerone zu verspotten, während wir verzweifelt nach einem italienischen Restaurant suchten. Jetzt brauchten wir wirklich dringend einen Teller Spaghetti.
Am nächsten Morgen machten wir uns wieder auf die Reise, wie üblich in zwei Gruppen. Und dieses Mal gewannen wir unseren Glauben an die Anhalterei zurück: Wenn du das Glück auf deiner Seite hast, ist und bleibt es die beste Art zu reisen. Du kommst
durch Orte, durch die du sonst nie gekommen wärst und durch die du auch nie wieder kommen wirst, gleichsam aus Holz geschnitzte Dörfchen, wo dich die Kellnerinnen in schnuckeligen Gasthäusern an zauberhaften Seen neugierig bedienen. In so großer Schönheit - und nicht nur in Bier - badend, fühlst du dich mit der ganzen Menschheit versöhnt. Natürlich hast du das Böse auf der Welt nicht vergessen, aber es ist so weit weg, da du dich jetzt in diesem geheimen Paradies befindest, nur um dann, sobald du wieder auf der Straße bist, auf einem Schild zu lesen, dass du soeben Dachau hinter dir gelassen hast. Jedenfalls dauerte es kaum zwei Tage, und wir trafen uns alle vor den Gittern von Christiania wieder - ja, das Paradies der Hippies war umzäunt wie ein Lager.
Was uns sofort ins Auge springt, als wir die erste Kneipe betreten, ist, dass wir die einzigen bekleideten Menschen sind. Die anderen schlürfen ihre Drinks an der Theke oder essen ihre Brötchen im Sitzen und sind allesamt peinlich darauf bedacht, kein einziges Kleidungsstück am Leib zu haben. Als wir hinausgehen, sehen wir außerdem einen Tisch, vor dem sich die Leute drängen und hinter welchem Rino unser Himalaja-Kraut verkauft. Seine Haare sind kurz geschnitten, aber er steht ohne Jackett und Krawatte da, eine stattliche Blondine neben sich. Er trägt einen Kaftan, der ihm bis zu den-Füßen reicht, und so etwas wie ein rituelles Band um den Kopf. Wir wollen ihm schon den Schädel einschlagen, als er uns gütig anlächelt und mit strahlenden Augen sagt: »Immer mit der Ruhe. Ich hab’s nur für das Gemeinwohl getan. Ich hatte fünfzig Kilo Gras im Gepäck, und so ausgeflippt, wie ihr daherkommt, wären wir bestimmt geschnappt worden. So ist alles glattgegangen. Am Zoll haben die Hunde vor lauter Schafskäsegestank im VW-Bus nichts gewittert.« Aus einer Tasche zieht er ein Bündel Banknoten hervor und wedelt damit vor unseren Augen herum: »Schaut, und dabei hab ich gerade erst angefangen. Natürlich teilen wir. Jetzt geht erst mal mit Urzula mit« - er gibt der Wikingerin ein Zeichen - »sie begleitet euch nach Hause. Einen Palast habe ich euch besorgt, euch Dreckskerlen. Sobald ich den Laden hier dichtmache, komme ich nach.«
Rino kann überzeugend sein, und das Haus ist wirklich komfortabel. Es ist eines der Holzhäuser im »Nobelviertel« und liegt auf den Hügeln, die auf den Fluss schauen, gegenüber von den alten, verlassenen Arbeiterhäuschen. Beim Näherkommen hören wir Violinenmusik, aber sie wird keineswegs vom Band gespielt, sondern von einem leibhaftigen Streichquartett. Die Musiker sind ebenfalls nackt, und die Cellistin ist eine Fee. Sie sitzen in einem Garten vor einem ganzen Rudel Nordländer - Nordländerinnen vor allem -, allesamt nackt, wie es sich ziemt, und mit brauner Haut, wie man sie nicht von Leuten erwarten würde, die auf diesem Breitengrad aufgewachsen sind. Urzula zeigt uns unser Zimmer. Wir rollen unsere Schlafsäcke auf dem Holzboden aus, aber draußen gibt es so viel zu tun und zu schauen, dass unsere Müdigkeit sofort verfliegt.
Kaum ist das Konzert zu Ende, stürzen sich alle in den Fluss. Ein Bad kann auch uns nur guttun, selbst wenn das
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