Ferne Verwandte
doch nicht im Busch!«
»Emmental, her mit dem Schlüssel, ich kann’s auch nicht mehr halten«, sagt mit neuer Verve Rino, der überraschend die Maske des psychedelischen Weisen fallen gelassen hat.
»Einen Scheiß werd ich tun … Leckt mich doch, ihr Papasöhnchen. Ich muss von meiner eigenen Hände Arbeit leben, und wenn die mich einbuchten, kann ich mir das Visum für die Schweiz abschminken.«
»Schweizer, her mit dem Schlüssel!«, flehen wir ihn nacheinander an, gedrängt von einem plötzlichen, unaufhaltsamen Bedürfnis.
»Nur über meine Leiche«, sagt er. Und wir fangen schon mal an, fallen über ihn her, ziehen ihn nackt aus, aber nichts, der Schlüssel ist nicht da. Er muss ihn irgendwo versteckt haben.
Es dauert nicht lang, und das Zimmer mutiert zu einer Bedürfnisanstalt. Abwechselnd bespritzen wir die braunen Papp-Achtecke, die unter unseren ergiebigen Strahlen schon wie Herzen pulsieren. Apache weint, lacht, weint, dann schifft auch er. In die Sessel gelümmelt und die Füße hochgelegt, bleiben wir in diesem Pissemeer sitzen wie Schiffbrüchige auf Flößen. Der Schweizer döst ein. Hin und wieder schlägt er die Augen auf und fragt schläfrig: »Sind wir immer noch high?«
Ja, wir sind noch high. Jetzt fühlen wir uns vom ganzen Dorf umzingelt - vorneweg sehe ich meine Großmutter -, wie in Szenen, in denen gleich jemand gelyncht wird. Unsere Haut ist grün, schuppig, das Herz rast, der Speichel fließt nicht mehr - und das soll nun die psychedelische Erfahrung sein? Garantiert ist es das letzte Mal, dass ich sie mache, und sobald die Wirkung des Stoffs nachlässt, kehre ich liebend gern in Incoronatas Arme zurück.
Ich kam mir vor wie ein Krieger, der aus einer großen, verlustreichen Schlacht heimkehrt, als ich sie küsste - ich spürte, wie das Blut in ihren Lippen pochte und wie groß ihre Liebe war. Ja, sie war zu groß. Inco wollte mich ganz für sich allein, und jetzt, da meine Freunde wieder da waren, rang sie mir das Versprechen ab, mich nicht mehr mit ihnen zu treffen. Das war nicht schwer, nach allem, was passiert war. Wenn wir nicht beisammen waren, blieb ich allein zu Hause, aber es bedrückte mich nicht. Ich hatte mein Gleichgewicht wiedergefunden. Eines Nachmittags erzählte ich ihr zur Abwechslung von Amerika, Onkel Richard, seinem märchenhaften Reichtum und davon, dass wir nach unserer Heirat bei ihm wohnen würden, dass er fest damit rechne.
»Wieso bist du dir da so sicher?«
Ich antwortete, dass es gar nicht anders sein könne: Mein Vater sei für Onkel Richard mehr gewesen als ein Sohn.
»Ja, aber hat er sich denn jemals bei dir gemeldet? Was weiß ich, hat er dir je’nen Brief geschrieben? Oder irgend’n Geschenk geschickt oder Geld, wenn er schon so’n Haufen hat?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Wenn er dich bei sich haben wollte, würde er dich sicher einladen. Und außerdem läuft die Ölfabrik wieder wie geschmiert. Erklär mir doch mal, warum wir da weggehen und die armen Einwanderer spielen sollten? Wieso sollten wir deinen Onkel um Almosen bitten, wenn wir hier alles haben, was wir brauchen? Das wär doch ein echter Blödsinn, mein Schatz.«
Wir lagen auf einer Wiese. Aus der Ferne drangen durch den Schleier der Abendluft die Klänge von Maestro Fusacchios Kapelle zu uns herüber. Ich erinnere mich, dass ich Inco, während sie mich umarmte, recht gab. Meine großen Hoffnungen - die strahlende Zukunft in Amerika, die Karriere als Magnat an der Seite von Onkel Richard oder die noch ruhmreichere Karriere als Schriftsteller - waren nichts als Jugendträume, und nun war die Zeit gekommen, sich von ihnen zu verabschieden.
Inco hatte auch in Bezug auf die Ölfabrik recht, wie mir Nonnilde ein paar Tage später bestätigte. Sie kam vorbei und bat mich in ihr Zimmer. Ich sollte sie in den Betrieb begleiten, was seit Jahren nicht mehr passiert war. Dort zeigte sie mir stolz die Bilanz, das Ergebnis ihrer beharrlichen Mühen, und sagte: »Jetzt muss ich nur noch das Kapital auftreiben, damit ich die Verarbeitungsprozesse automatisieren kann, und verlass dich drauf, dass ich es auftreibe … Dich zum Landvermesser ausbilden zu lassen war ein Fehler: Unsere Zukunft liegt in der Olive. Was es zu lernen gibt, wirst du von mir lernen. Mach im Herbst dein Diplom, dann geht’s an die Arbeit.«
Alles in allem hätte ich zufrieden sein sollen. Der Firma Premiata Olii Superfini war es niemals besser gegangen, und meine Zukunft stellte sich ohne Unwägbarkeiten dar.
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