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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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Krawatte nicht wiederzuerkennen war, sprach das Nummernschild eine eindeutige Sprache. Er ist immer noch der alte Schwachkopf, dachten wir, jetzt fährt er noch hundert Meter, und dann bleibt er stehen. Aber nicht einmal die äußerst detaillierte Aufzählung sämtlicher Unfallarten, die wir ihm an den Hals wünschten, vermochte ihn zum Anhalten zu bewegen. Also stellten wir uns - dann war er es doch nicht? - resigniert darauf ein, auf den Lastwagenfahrer der kleinen blonden Kellnerin zu warten. Der traf mit fünf Stunden Verspätung ein, fünf Stunden, in denen wir erfolglos versucht hatten, uns andere Transportmöglichkeiten zu beschaffen. Fünf Stunden Langeweile und absolute Verzagtheit. Zwei weitere vergingen, und wir wurden in Zürich abgeladen.
    Der Schweizer zeigte uns stolz das Viertel der Toblerone-Angestellten - folglich in Kürze auch das seine - mit der gigantischen Replik des berühmtesten Schokoladenzackens der Welt; golden drehte sie sich auf einem grünen Hügelchen. Am Anfang hatten wir geglaubt, die von ihm vorgeschlagene Zwischenstation bei seinen Eltern sei mit unserer Abenteuerlust absolut unvereinbar, nun aber war es, mehr als der legitime Drang, nach vielen Monaten liebe Bekannte wieder in die Arme schließen zu dürfen, die andere, wahre Lust, der Hunger nämlich, die es uns akzeptabel erscheinen ließ, für einen Teller Spaghetti - es hatten zwei Tage on the road genügt, und schon trauerten wir mit jeder Faser unseres Leibes der heimatlichen Küche nach - die Umarmungen, die Fragen, die Empfehlungen und
das ganze lästige Zeug, das der Wiedereintritt in den Schoß unseres Stammes mit sich bringen würde, über uns ergehen zu lassen.
    Gegen alle Befürchtungen sollte uns niemand umarmen oder fragen, wer denn geboren oder gestorben sei, und niemand sollte uns verärgert auf die Gefahren unserer Reise hinweisen. Vor allem aber sollte auch niemand unseren Hunger stillen. Es stellte sich heraus, dass die Mutter des Schweizers zwar erwartungsgemäß klein, behaart und schwarz gekleidet war, dass ihr aber nicht nur die typischen Eigenschaften der südländischen Mamma abgingen - die zudringlich und aufmerksam ist und nahe am Wasser gebaut hat -, sondern dass sie darüber hinaus auch jeden Anflug jener Gastfreundschaft vermissen ließ, die unseren Landsleuten generell zuerkannt wird. Sie umarmte ihren Sohn nur andeutungsweise, und nachdem sie uns ein kaum wahrnehmbares Zeichen eines Grußes gegönnt hatte, teilte sie ihm mit: »Dein Vater ist in der Fabrik, macht Überstunden, kommt bald zurück.« Dann setzte sie sich neben der großen, modernen Schrankwand mit Glasfront auf ein Korbstühlchen und wandte sich ihrem Strickzeug zu, gerade so, als wäre sie im Dorf. Anders als im Dorf handelte es sich jedoch nicht um einen Strumpf, sondern um einen Handschuh. Das einzige Geräusch, das man hörte, war das Ticktack der runden Aluminiumuhr an der Wand, das auf unheimliche Weise die Zeit zerlegte.
    Nachdem wir aus dem achtzehnten Stock des Hochhauses, in dem wir nun aus freiem Willen gefangen waren, das Panorama bewundert hatten, blieb uns nichts übrig, als der Reihe nach darum zu bitten, das Bad benutzen zu dürfen: ein finsteres Loch mit Klosettschüssel. Die Dusche und der Rest waren, wie uns der Schweizer mit schwindendem Stolz zeigte, in einem anderen Raum untergebracht. In so einer Zelle zu kacken verlieh unserem Aufenthalt nur einen weiteren Anstrich von Traurigkeit. Den letzten Rest gab uns dann der Vater.
    Beim Eintreten begrüßte er uns betrübt. Er wechselte ein paar Worte mit Emmental und fragte ihn, was er hier mache, und als dieser antwortete, wir seien Touristen, fixierte er uns stumm, als
würde er sich unfreiwillig in der Gesellschaft von Fremden wiederfinden. Nachdem das erste Thema auf diese Weise erschöpft war, beabsichtigte er nicht, nach anderen zu suchen. Die Situation war unerträglich geworden. Schweigend saßen wir um den Resopaltisch herum. Der Schweizer war bleich im Gesicht und atmete schwer, nachdem er auf jede erdenkliche Art und Weise versucht hatte, mit seinem Erzeuger ein Minimum an Konversation in Gang zu bringen. Der Mann saß mit seiner üppigen ergrauten Mähne da und gab einsilbige Antworten, die Augen auf die Hand gerichtet, die er sich mit Toblerone-Masse verbrüht hatte und die in einem grauen Wollhandschuh steckte - so einem wie dem, an dem seine Ehefrau so emsig strickte. Umsonst warteten wir, dass besagte Ehefrau wie jede Ehefrau im Süden - und nicht nur

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