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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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Baron, praktisch von Geburt an vor Augen hatte, ohne es indes zu »sehen«. Die Entdeckung hatte ihm die Veröffentlichung eines umfangreichen Artikels in der kalifornischen Zeitschrift Mysterious Antiquities eingebracht, außerdem Anerkennung seitens des Rektors der Universität Kairo, eine lobende Erwähnung durch die Freie Universität Locarno und vor allem ein Interview in der seinerzeit hochgeschätzten Fernsehsendung Cronache italiane . Der Journalist, dem er es gewährte, war in der Überzeugung aus Rom angereist, es mit dem üblichen Mythomanen zu tun zu bekommen, fand sich aber stattdessen einem geschliffenen Intellektuellen gegenüber, der mit seiner Präsenz die Wohnzimmer eroberte und so die definitive und unwiderrufliche Weihe zum offiziellen Historiker erlangte. Auf der Welle der Begeisterung nahm
sich Corelli ein Jahr Sonderurlaub - ein Sabbatjahr, wie er es gern nannte -, um sich ganz der Forschung zu widmen, und erlebte dann den finstersten Abschnitt seines Lebens, das sich schlagartig wieder aufhellte, als er ins Klassenzimmer zurückkehrte. Noch am selben Tag, als er den in die Leere gerichteten Blick der Schüler sah und ihr Gähnen und ihr monotones Murmeln hörte, erwachten in seinem Geist endlich wieder jene Ideen und Intuitionen, nach denen er über lange Monate hinweg vergebens Ausschau gehalten hatte. Er lernte die Arbeit in der Schule samt der ihr eigenen Langeweile und Eintönigkeit ebenso zu schätzen wie die strenge Askese, die notwendig ist, wenn man zur »Vision« gelangen will - oder um es mit Foscolo zu sagen: Es ist die Entbehrung, die den Willen stärkt.
    Doch nicht deswegen vernachlässigte er den Unterricht. Seine Stunden waren vielmehr immer gedankenvoll, leidenschaftlich, ja sogar unterhaltsam, aber selbst in jenen Momenten, in denen wir - sein primitives Publikum - uns in das weise erschlossene Universum des Wissens versetzt fühlten, bemerkten wir, dass er mit seinen Gedanken anderswo weilte. Im Übrigen hatte er irritierende Umgangsformen. Unsere unsicheren, aber willigen Lernanstrengungen verfolgte er ohne jede Begeisterung. Mit vollen Händen teilte er Spott aus, wenn er in der Klasse die Hausaufgaben verlas, und während er uns abfragte, kräuselte er die Lippen zu einem unverhohlen mitleidigen Lächeln oder vergrub das Gesicht in den Händen, um sich dann plötzlich zu schütteln und in fieberartiger Ekstase eine seiner Kladden, die in tabakfarbene Seide gebunden waren, mit Notizen zu füllen: Es waren die »Absencen«, auf die alle warteten, um sich jenen Tätigkeiten zu widmen, denen Schüler mit Vorliebe nachgehen, sobald der Lehrer abgelenkt ist: Nasebohren, Raketenwerfen, gegenseitiges Bespucken, Abschreiben der Hausaufgaben für die folgende Stunde, und all dies in absoluter Stille wie eine Bakterienkolonie, die unter der Linse eines Mikroskops wimmelt. Alle taten das, nur ich nicht, der ich ihn entzückt anstarrte: Was hätte ich nicht darum gegeben, lesen zu dürfen, was dieser
unverdrossene Lüfter von Geheimnissen notierte … ein Privileg, das mir leider schon bald gewährt werden sollte.
    Tatsache ist, dass ich in Corelli viel mehr als nur einen Lehrer sah. Er war anders als jedes andere Mitglied des Lehrkörpers - und auch anders als jeder andere Mensch, den ich kannte. Die Art, wie er sich bewegte, sprach und sich benahm, faszinierte mich. Doch trotz meiner Bemühungen, mich hervorzutun - bereits Mitte des Schuljahrs beherrschte ich den Stoff des folgenden -, legte er mir gegenüber dieselbe olympische Gleichgültigkeit an den Tag wie gegenüber den anderen. Bis ich mich eines Morgens während einer seiner periodischen »Absencen« ebenfalls »absentiere«. Ich bin vollkommen mit einer jener Miniaturen beschäftigt, mit denen Schüler gern die weißen Flächen in ihren Heften verzieren - und die, wenn man nur seine Aufmerksamkeit darauf lenkte, höchst aufschlussreiche Hinweise auf ihren existenziellen Zustand liefern würden -, als ich, bereits zu spät, eine Präsenz hinter mir fühle. Ich drehe den Kopf und sehe, dass er mich mehr oder weniger bedrohlich fixiert, zumal er jetzt mit dem Finger auf die Heftseite deutet und sagt: »Und das da? Was soll das darstellen?« Ich bin gerade dabei, mit einem roten Filzstift, den ich mir just an diesem Morgen gekauft habe, die Kreuze auszufüllen. Vielleicht ist es der Lösungsmittelgeruch, der mir zu Kopf steigt, jedenfalls rede ich forsch drauflos: »Das sind die zinnoberroten Kreuze der edlen Ritter des

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