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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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Templerordens.« Ich sehe, dass er die Augen zu schmalen Schlitzen zusammenkneift, und füge deshalb in devotem Ton hinzu: »Ich entferne sie sofort, Herr Professor. Oder soll ich lieber gleich die ganze Seite herausreißen?« Was so eine geschnüffelte Ladung Filzstiftfarbe nicht alles bewirken kann!
    »Was weißt denn du schon über die Tempelritter?«, fragt er von oben herab.
    Ich sage ihm alles, was mir bekannt ist, seit ich Medoros spärliche Informationen mit Hilfe der Enzyklopädie Labor erweitert habe - ein mit Genehmigung des Duce veröffentlichtes Werk, das damals und auch später noch in jeder italienischen Familie zu finden
war, mit beachtlichen Fotos von Abessinierinnenbrüsten, die allerdings, verglichen mit den tadellos spitzen auf Onkel Arcangelos Bildern, ein wenig ausgeleiert sind, aber immerhin. Während die Schüler rundum vorsichtig die Tätigkeiten wieder aufnehmen, denen sie sich gewöhnlich auch dann widmen, wenn sich der Lehrer einen privaten Gedankenaustausch über Themen erlaubt, die nicht Bestandteil der vom Ministerium vorgeschriebenen Lehrpläne sind, schließe ich mein Referat hochtrabend ab, indem ich deklamiere: »Nach der auf Betreiben von Philipp IV., genannt der Schöne, durchgeführten Verfolgung und der anschließenden Vertreibung aus Frankreich sollen sich die wenigen Überlebenden des schändlichen Gemetzels zu uns in unser Dorf geflüchtet haben.« Dann fixiere ich den Professor in Erwartung der verdienten Belobigung. Stattdessen sehe ich, wie sein Blick sich verfinstert. Fast kommt es mir so vor, als bräche er gleich in jenes Gelächter aus, das ich für demütigender halte als seine körperlichen Züchtigungen - zehn Stockschläge auf den Handrücken etwa. Ich muss zu viel gesagt haben, denn tatsächlich findet sich in der Labor kein Wort über unser Dorf. Deshalb schiebe ich grinsend nach: »So lautet zumindest die Theorie von Medoro« - angesichts der Tatsache, dass Medoro gegenwärtig Gast im Irrenhaus von Aversa ist, möchte ich ihm zu verstehen geben, dass ich der Erste bin, der einer solchen hirnrissigen Hypothese keinerlei Gewicht beizumessen gewillt ist.
    »Die Theorie von Medoro!«, brüllt er jetzt. Das mikroskopische Schülergewimmel erstarrt, und in die regungslose Stille hinein schallt seine empörte Stimme: »Jahrelang hab ich herumknobeln müssen, um zu diesem Schluss zu gelangen, und dann kommt dieser Irre daher und nennt das die Theorie von Medoro!« In seiner Wut ist der Professor tatsächlich in seinen heimatlichen Dialekt zurückgefallen. Nachdem er die Nase hochgezogen hat, fasst er sich wieder, überprüft die Knopfreihe seiner Weste und fügt, ehe er zum Katheder zurückkehrt, in italienischer Hochsprache und in einer protokollarischeren Ausdrucksweise als der, der er sich üblicherweise befleißigt, hinzu: »Begib dich Punkt 14 Uhr 30 zu meinem
Domizil, damit ich dir zeige, ob es sich hierbei um eine Theorie von Medoro handelt, pschhhhhh .«

    Von jenem Tag an fand ich mich täglich Punkt 14 Uhr 30 im Hause Corelli ein. Die Großmutter hatte nichts dagegen einzuwenden. Bereits zufrieden mit meiner tiefen Reue - immer mit den besten Noten versetzt, war ich zudem der hochgelobte Organist des Klosters -, glaubte sie, die Besuche beim Professor könnten mich vor möglichen Rückfällen schützen. Außerdem und vor allem ging es mit der Firma Olii Superfini aufwärts, und sie hatte viel um die Ohren.
    So kam es, dass ich zu den Wissensgebieten, denen Corelli seine ganze Kraft widmete, hingelenkt und der Welt endgültig entrückt wurde.

9
    Als ich aus dem Mund des Professors zum ersten Mal das Wort »Demologie« höre, denke ich, wie wohl alle, zunächst an Dämonen, das Böse, den Teufel, statt an »Volkskunde«, und wenn ich, obwohl mir Ursprung und Bedeutung des Begriffs mittlerweile klar sind, immer noch den Teufel vor Augen habe, liegt das zum Teil am Aussehen meines Meisters - er ist klein, leicht verwachsen, hat einen diabolischen Spitzbart und eine runde Hornbrille auf der Habichtsnase -, aber im Wesentlichen doch an seinem Lebensstil, der sich mir bereits am ersten Tag meiner Lehrzeit in seiner ganzen Absonderlichkeit offenbart.
    Ich klopfe an jenem Nachmittag ein bisschen zu früh bei den Corellis an. Auch mein Herz pocht schneller, aber die achtzig Pulsschläge - durchaus normal für einen Schüler, der seinen Lehrer besucht - sind nichts im Vergleich zu dem Herzrasen, das sich einstellt, sobald ich die Tür hinter mir zugemacht habe und im

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