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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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sehen - oder es manchmal tatsächlich sieht.
    Über all das hinaus, und das ist nicht wenig, muss jedes Nest im Süden, das etwas auf sich hält, unter allen Umständen seinen Experten für Heimatgeschichte haben, einen, der seine Existenz dem einzigen Ziel opfert, seinen Mitbürgern das Wissen um eine zweifellos ruhmreiche Vergangenheit zu vermitteln - heißt es nicht schon bei Giacomo Leopardi: »Besinne dich auf deine Ahnen, du morscher Zweig«? -, sie mit Stolz zu erfüllen und ihnen auf diese Weise zu helfen, Elend und Niedergang der gegenwärtigen Zeiten durchzustehen, um dann als Gegenleistung gelegentlich Anerkennung, meist aber jenen Spott zu erfahren, den der »morsche Zweig« für gewöhnlich über seinen Literaten ausschüttet.
    Nun war ich bis zu einem gewissen Punkt in meinem Leben davon überzeugt gewesen, dass diese Rolle auf würdige Weise von dem Organisten Medoro verkörpert wurde. Dann aber begegnete
ich Sabino Corelli, besser bekannt als der »Professor«. Und um einen Professor handelte es sich tatsächlich - er war mein Italienischlehrer in der Mittelstufe -, aber der Spitzname und die respektlose Herablassung, mit der er in der Regel ausgesprochen wurde, leiteten sich eher von seinem Hobby her, ein Begriff, der damals selbst bei uns im Dorf - wo man ihn wie obbs aussprach - in Mode war, später allerdings zu Recht in Vergessenheit geriet, weil er unzureichend würdigte, dass jene Tätigkeiten nur deswegen als überflüssig gelten, weil sie während der Freizeit ausgeübt werden, obwohl sie doch oft die einzige, verzehrende Leidenschaft eines ganzen Lebens darstellen. So war es auch im Falle jenes Mannes, in dem ich meinen Meister fand - wenngleich man besser sagen sollte, dass er es war, der mich zu seinem Lehrling erwählte.
    Ich war der Klassenbeste, doch das hätte nicht genügt, um aus mir denjenigen zu machen, der ich wurde. Corelli hegte vielmehr gegenüber der Schule wie gegenüber jeder anderen Institution jenes Gefühl der Gleichgültigkeit, wie es für Künstler und geniale Menschen generell typisch ist. Im Übrigen gab es für die Tatsache, dass er sich jeden Morgen pünktlich in seinem makellosen Dreiteiler im Klassenzimmer einfand, einem kalten, spärlich beleuchteten und von übel riechenden Knaben bevölkerten Saal, nicht einmal einen ökonomischen Beweggrund. Schon von Hause aus reich, hatte er seine Einkünfte weiter vermehrt, indem er Donna Edgarda geehelicht hatte, die er anlässlich eines Universitätsausflugs nach Capri sowie eines anschließenden Abstechers zum berühmt-berüchtigten »Sprung« des Tiberius kennengelernt hatte. Vor einem wunderschönen novemberlichen Sonnenuntergang hatten die beiden jungen Leute - er der Sohn von Amilcare Corelli, dem Notar von Marcianese, sie die Tochter des Barons Ugo Olivares Salina - statt der Stimmen der ins Meer gestürzten Opfer des sadistischen Kaisers, die der Legende zufolge genau zu jener Stunde des Tages zu hören sein sollten, eine andere, nicht weniger geheimnisvolle Stimme vernommen. Sie war aus ihrem Herzen gekommen und hatte sie einen Monat später veranlasst, eine inzwischen dreißig Jahre währende
Verbindung zu besiegeln, die sich, obwohl nicht durch die Geburt eines Erben gesegnet, fester und heiterer präsentierte denn je.
    Gleich nach der Hochzeit stattete Corelli dem entlegenen Heimatdorf seiner Gemahlin einen Besuch ab und verliebte sich in das Nest mit derselben jähen Leidenschaft, mit der er für seine Gattin entflammt war, sodass er nicht nur den Entschluss fasste, sich dort niederzulassen, sondern auch jenen, sein leibhaftiger Poet zu werden. In Dutzenden und Aberdutzenden von Publikationen besang er seine Geschichte und die romantische Schönheit der Landschaft und stellte schon bald die beiden anderen Anwärter auf das Amt in den Schatten - den Apotheker und sogar den Baron, seinen Schwager, die beide zwar nur mittelmäßige Forscher waren, aber über den nicht zu unterschätzenden Vorteil verfügten, Alteingesessene zu sein.
    Doch trotz seines wirtschaftlichen Wohlstands und des enormen Engagements, das ihm seine Studien abverlangten, hatte Corelli niemals das Unterrichten aufgegeben, wenn man einmal von jener Pause absieht, die auf seine erste große Entdeckung wenige Monate nach seinem Umzug ins Dorf gefolgt war, als er nämlich in einem wahren Geniestreich das Bildnis der echten Mona Lisa ausgerechnet in einem der Säle im Schloss seiner Gemahlin lokalisierte - ein Bildnis, das sein Schwager, der

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