Ferne Verwandte
Allgemeinen abscheulicher Teil entgegen, bestehend aus »Villen« - einer Art grob verputzter Siedlungshäuschen -, die sich die Emigranten von ihren erschufteten Ersparnissen bauen; ein paar Stehcafés, die regelmäßig von Tagedieben aufgesucht werden, sich am Sonntag aber mit den verschiedenen Fraktionen füllen, in die eine ländliche Gemeinde sich nur aufspalten kann, als da sind: die Anhänger des Bürgermeisters und seine Gegner oder die Befürworter des neuen Trainers und die des alten - und gibt es vielleicht etwas Unentbehrlicheres als eine Fußballmannschaft? Zu jedem Spiel findet sich das gesamte Dorf beim Fußballplatz ein, im Winter ein Sumpf, im Sommer eine verdorrte Rasenfläche, stets jedoch vor dem Hintergrund himmelblauer Berge und unvergesslicher Sonnenuntergänge. Der Schmied ist fast immer der fanatischste Fußballfan - dass er einem Gegner das Ohr abgebissen haben soll, gehört allerdings ins Reich der Legenden. Üblicherweise befindet sich seine Werkstatt in einer finsteren Höhle zu Füßen der Burg, wo im oberen Stockwerk die Station der Carabinieri untergebracht ist, in deren Räumlichkeiten er dann infolge seiner Fußballleidenschaft jedes Jahr ein paar Nächte verbringen darf.
In diesem Bezirk wohnen auch der Notar, der Amtsarzt, der Apotheker, der Tierarzt, die Hebamme und mindestens eine Hure, die gewöhnlich nach ein paar Dienstjahren einen findet, der sie heiratet, und anderswohin zieht. Von anderswoher dagegen kommt der einzige Kriminelle am Platz, und das ist der hierher Verbannte. Entgegen dem gängigen Klischee sind die Leute in den meisten Dörfern des Südens nämlich arbeitsam, ehrlich und tolerant, und zwar so tolerant, dass sie nach einiger Zeit auch den importierten Delinquenten als Mitspieler beim Tressette akzeptieren - letzten Endes scheint er ja doch ein guter Kerl zu sein. Nun braucht man aber einen Ersatz, und zwar einen für seine blutrünstigen Taten bekannten Straßenräuber oder Anarchisten, damit er das oben erwähnte Vorurteil bestätigt.
Ferner ist da noch die Folkloregruppe, die zu den renommiertesten im ganzen Umkreis zählt; ein Ensemble, das von Polka über Mazurka bis zu den neuesten Hits des Sanremo-Festivals alles im Programm hat; eine Dorfkapelle, die einen an den Feiertagen in aller Herrgottsfrühe mit ihren beschwingten Melodien weckt - unvergesslich vor allem jene, die dich als Kind, auch wenn es schneit, barfuß auf den Balkon laufen lassen. Dann muss es einen Ausrufer geben, dessen Schreie, ebenfalls in aller Früh und oft begleitet von einem Trommelwirbel oder den Klängen einer altersschwachen Trompete, verkünden, dass Markttag ist; ein Kloster mit frommen Schwestern, die einen Kindergarten unterhalten, und außerdem, damit die Kleinen an schönen Tagen ausschwärmen können, einen Park mit einem monumentalen Brunnen, hohen, efeuumrankten Zypressen und Schirmpinien.
Zur Ausstattung gehört ferner eine Grundschule und eine Mittelschule, während für den Weg zur höheren Schule eine Busfahrt in Kauf genommen werden muss; dann der katholische Jugendtreff mit Tischfußball und Tischtennis; die Freizeitorganisation mit Tischfußball und Billardtischen; ein Verkehrsverein, der Wohltätigkeitstombolen und Patronatsfeste veranstaltet; außerdem eine wenige Kilometer entfernte Ortschaft, deren Einwohner durch die
Bank für minderwertig, zurückgeblieben und niederträchtig gehalten werden - und das ist wirklich typisch, nicht nur für jedes Nest im Süden, das etwas auf sich hält, sondern für sämtliche Nester in Italien, und das gilt, wenn man es recht bedenkt, vielleicht sogar für die meisten der hier aufgezählten Stichwörter. Auch der Dorfidiot darf nicht fehlen, beziehungsweise lieber eine Dorfidiotin, deren Schreie in den Nächten, Vollmond oder nicht, die Kinder und nicht nur diese erschauern lassen. Ebenso wenig fehlen darf eine Trattoria, in der typische Gerichte der Region serviert werden - »Immer dasselbe, ist das denn die Möglichkeit?« -, und eine andere, die meist geführt wird von einem, der aus Norditalien zurückgekehrt ist, mit einer kleinen, völlig reizlosen Ehefrau - »So weit isser weg, bloß um sich so’ne Vogelscheuche zu angeln!« - und mit kühnen Ideen zur Neuinterpretation der heimischen Küche - Pasta mit Safranbohnen, Rübenspitzchen à la Stroganoff, Stockfisch an Sahne und Gurke oder Lamm süßsauer -, was einzig und allein bewirkt, dass man der Tradition nachweint; dann ein Pfarrkino, das sich auf Filme mit
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